Neue Studie: AKW unzuverlässiger als gedacht
Versorgungssicherheit der Schweiz ist grösser ohne Atomkraft

Kernenergie produziert zuverlässig Strom – sagen Atombefürworter. Eine neue Studie zeichnet ein anderes Bild.
Publiziert: 25.06.2022 um 18:16 Uhr
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Aktualisiert: 09.06.2023 um 11:29 Uhr
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Gemäss einer neuen Studie ist Kernenergie unzuverlässiger als gedacht.
Foto: Keystone
Danny Schlumpf

Vor fünf Jahren sagte das Schweizer Stimmvolk Ja zum Atomausstieg. Dann kam der Ukraine-Krieg und mit ihm eine weltweite Energiekrise. Jetzt warnt Axpo-Chef Christoph Brand (52): «Die Rationierung wird kommen.» Das gibt Stimmen Auftrieb, die zu einer Neubewertung der Atomenergie aufrufen. Sie fordern möglichst lange Laufzeiten der bestehenden Kraftwerke, einige wollen sogar wieder neue Anlagen bauen.

Atomenergie produziert zwar radioaktiven Müll und ist für grosse Katastrophen verantwortlich – von Tschernobyl bis Fukushima. Aber sie liefere zuverlässig Strom ab Band, sagen die Atombefürworter. Und niemand widerspricht.

Doch Kernenergie ist viel unzuverlässiger als bisher gedacht. Das zeigt eine neue Studie des deutschen Forschungsinstituts DIW und der Technischen Universität Berlin im Auftrag der Schweizerischen Energie-Stiftung (SES).

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«Die Schweizer Atomkraftwerke unterliegen grossen Unsicherheiten, etwa durch ungeplante sicherheitsbedingte Ausfälle oder verlängerte Revisions- und Reparaturzeiten», sagt Fabian Lüscher (33), Leiter Atomenergie bei der SES.

Das gilt nicht nur für das AKW Beznau 1, das von 2015 bis 2018 volle 1100 Tage stillstand. Auch für das AKW Leibstadt weist die neue Studie starke Schwankungen nach. 2016, 2018 und 2021 kam es gar zu längeren Unterbrüchen.

16-Tage-Unterbruch in Gösgen

Gösgen arbeitet ebenfalls nicht konstant. Dort musste zum Beispiel 2019 die Produktion wegen einem Kurzschluss für 16 Tage am Stück komplett unterbrochen werden.

Ungeplante Reaktor-Schnellabschaltungen sind keine Seltenheit: Zwischen 2011 und 2020 gab es in Leibstadt sieben solche Vorfälle, in Gösgen drei. Zwischen 1995 und 2010 war das in beiden Kernkraftwerken zusammen nur sechsmal geschehen. Heisst: Die Ausfälle nehmen mit dem Alter der Anlagen zu.

Der Bundesrat geht in seinen Energieszenarien davon aus, dass das heute 38 Jahre alte AKW Leibstadt und das 43-jährige AKW Gösgen auch 2035 noch in Betrieb sind. Doch wie steht es um die Versorgungssicherheit der Schweiz, wenn die beiden Werke dann noch laufen? Schlechter als ohne sie, lautet das Fazit der Studie.

«Die Sicherheit der Stromversorgung ist höher, wenn die Schweiz den Ausbau der Fotovoltaik vorantreibt und auf den Weiterbetrieb von Atomkraftwerken verzichtet», sagt Energieexperte und Studienautor Mario Kendziorski (32). Er kommt zum Schluss: «Schweizer Atomkraftwerke sind ein erhebliches Risiko für die Versorgungssicherheit.»

Frankreich kämpft mit Ausfällen

Wie schnell es gehen kann, erleben gerade die Franzosen: Im Nachbarland liegt seit einigen Tagen der halbe AKW-Park flach. Kendziorski: «Das zeigt, dass der gleichzeitige Ausfall mehrerer Kraftwerke eine sehr realistische Bedrohung ist.» Für den Forscher ist klar: «Nicht nur wegen der Gefahr schwerer Unfälle ist es ratsam, auf Atomkraft zu verzichten und den Ausbau der Erneuerbaren voranzutreiben. Es lohnt sich auch mit Blick auf die Versorgungssicherheit.»

Das demonstriert die Studie, indem sie für 2035 zwei Szenarien entwirft. Das erste geht davon aus, dass Leibstadt und Gösgen dann noch laufen. Das zweite rechnet ohne sie – dafür mit einem starken Ausbau der Fotovoltaik, der die wegfallenden Kernkraftwerkskapazitäten von 16 Terawattstunden (TWh) pro Jahr kompensiert. Die Studie geht von einem entsprechenden Ausbau der Speicherkapazität aus, wie er in Deutschland bereits stattfindet.

In beiden Szenarien spielt die Studie zusätzlich zwei Varianten der verfügbaren Stromimporte durch. Die erste geht von einem geringen Austausch mit den Nachbarstaaten aus, wie es aufgrund des drohenden Ausschlusses der Schweiz aus dem europäischen Strommarkt zu befürchten ist. In der zweiten Variante bleibt der bisherige Austausch bestehen.

Dabei zeigt sich: Die Monate März und April sind der Flaschenhals. Dann ist der Stand der hiesigen Speicherwasserkraftwerke am tiefsten – und das Klumpenrisiko der beiden AKW fällt am stärksten ins Gewicht. Machen Leibstadt und Gösgen in dieser Phase dicht, ist die Stromversorgungssicherheit auch mit einer strategischen Energiereserve im Eimer, wenn die Schweiz ohne Kooperationsvertrag mit der EU dasteht.

Fotovoltaik besser kalkulierbar

Anders sieht es aus, wenn die Eidgenossen die AKW abstellen und voll auf Erneuerbare setzen. Dann ist die Versorgungssicherheit gemäss der Studie in keinem Fall gefährdet.

Bloss: Auch die Sonne liefert doch nur unregelmässig Saft? «Es gibt bei der Fotovoltaik gewisse Unsicherheiten bei der Prognose der Stromerzeugung», räumt Mario Kendziorski ein. «Aber die sind viel besser kalkulierbar als bei der Atomkraft und können bei der Planung von vornherein berücksichtigt werden. Hinzu kommt, dass unmöglich alle Solarpanels gleichzeitig ausfallen. Bei Kernkraftwerken ist das augenscheinlich anders.»

Fabian Lüscher von der Schweizerischen Energie-Stiftung sagt: «Die Versorgungssicherheit der Schweiz ist grösser ohne Atomkraftwerke.» Auch mit Blick auf die aufzubauenden Reserven zeigten sich die Vorteile der Erneuerbaren, so Lüscher: «Wenn wir weiter mit Atomstrom arbeiten, brauchen wir auf jeden Fall Sicherheitsreserven. Mit Fotovoltaik brauchen wir die nicht. Wir führen die Diskussion über zusätzliche Gaskraftwerke also nur wegen der Atomkraft.»

Was die Studie ebenfalls deutlich macht: Ob mit oder ohne AKW – die internationale Zusammenarbeit ist für die hiesige Versorgungssicherheit Gold wert. «Umso er- staunlicher, dass die Schweiz diese Kooperation aufs Spiel setzt», sagt Energieexperte Kendziorski.

Der AKW-Betreiberverband Swissnuclear teilt die Stossrichtung der Studie nicht. «Die Kernkraftwerke Beznau, Gösgen und Leibstadt liefern rund ein Drittel des in der Schweiz produzierten Stroms», sagt Geschäftsführer Wolfgang Denk (46). «Ein schnelles Abschalten würde die Versorgungssicherheit mindern und die Abhängigkeit vom Ausland weiter erhöhen.» Vor dem Hintergrund der aktuellen geopolitischen Verwerfungen sei das ein äusserst ungünstiges Szenario.

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