SonntagsBlick: Severin Lüthi, in der Tennis-Welt ist das Phänomen Carlos Alcaraz in aller Munde. Wo haben Sie den grossartigen Wimbledon-Final zwischen ihm und Novak Djokovic geschaut?
Severin Lüthi: Ich muss gestehen, dass ich während des Finals mit meiner Frau in Italien unterwegs war. Ich konnte nicht die gesamte Partie schauen, aber habe am Flughafen immer wieder mal übers Handy reingezappt. Aber ja, ich verstehe die Begeisterung.
Sie haben schon viele vermeintliche neue Superstars kommen und gehen sehen. Ist Alcaraz einer, der Sie packen und begeistern kann?
Absolut. Ich schaue ihm gerne zu, er spielt abwechslungsreich, es passiert immer etwas, wenn er auf dem Platz steht. Seine Energie gefällt mir sehr. Auch er weist noch Höhen und Tiefen in seinen Aufschlag-Games auf. Aber er ist natürlich ein sehr kompletter Spieler.
Severin Lüthi wurde am 5. Januar 1976 geboren und wuchs in Stettlen bei Bern auf. 1993 krönte er sich zum Schweizer Meister. Als Profi erreichte er in der ATP-Weltrangliste zwischenzeitlich Rang 622, brach seine Karriere aber bereits mit 20 ab. Seit 2005 ist er Captain des Schweizer Davis-Cup-Teams, mit dem er 2014 den Titel holte. Während 15 Jahren begleitete er Roger Federer als Coach auf der Tour, bis zu dessen Karriereende im September 2022. Dabei teilte er sich das Traineramt immer wieder mit anderen, zuletzt mit dem Kroaten Ivan Ljubicic (44). Lüthi ist verheiratet und wohnt mit seiner Frau Claudia in Thun.
Severin Lüthi wurde am 5. Januar 1976 geboren und wuchs in Stettlen bei Bern auf. 1993 krönte er sich zum Schweizer Meister. Als Profi erreichte er in der ATP-Weltrangliste zwischenzeitlich Rang 622, brach seine Karriere aber bereits mit 20 ab. Seit 2005 ist er Captain des Schweizer Davis-Cup-Teams, mit dem er 2014 den Titel holte. Während 15 Jahren begleitete er Roger Federer als Coach auf der Tour, bis zu dessen Karriereende im September 2022. Dabei teilte er sich das Traineramt immer wieder mit anderen, zuletzt mit dem Kroaten Ivan Ljubicic (44). Lüthi ist verheiratet und wohnt mit seiner Frau Claudia in Thun.
Novak Djokovic sagte, Alcaraz vereine «die drei Welten» von Roger Federer, Rafael Nadal und eben Djokovic. Erleben wir in den nächsten Jahren also eine Alcaraz-Dominanz?
Er hat auf jeden Fall alles, um viele Grand-Slam-Turniere zu gewinnen. Und doch wissen wir nicht, was in zwei Jahren ist. Was, wenn er sich verletzt? Was, wenn in ein paar Jahren noch einer kommt, von dem wir alle sagen, dass er noch unglaublicher ist? Und: Wie jemand auf den grossen Erfolg reagiert, können wir so früh auch noch nicht abschätzen. Im Sport leben wir immer im Moment. Das habe ich in meiner Karriere gelernt. Ausserdem …
Ja?
Mit den meisten Prognosen, die ich in meinem Leben gemacht habe, habe ich wohl falschgelegen. Ich weiss noch: Als Pete Sampras 14 Grand-Slam-Titel gewonnen hatte, sagte ich: «Das wird nie mehr jemand erreichen!» Nun haben wir bereits drei Spieler, die 20 oder mehr Grand-Slam-Siege eingefahren haben. Und es ist nicht etwa so, dass seit meiner Aussage 250 Jahre vergangen wären (lacht).
Sie haben Federer 15 Jahre lang als Coach begleitet – bis zu seinem Rücktritt im letzten Herbst. Wie sieht Ihr Alltag seit diesem Einschnitt aus?
Die letzten Jahre von Rogers Karriere hatten mich auf diesen Wechsel bereits vorbereitet. Ich habe schon da ein paar Dinge neben meinem Job als Coach gemacht. Im Vergleich zu früher führe ich also nicht zwei total verschiedene Leben. Und doch bin ich nach Rogers Rücktritt noch immer in einer Findungsphase.
Wie gestaltet sich diese?
Nun, mein Amt als Davis-Cup-Captain nimmt einen Teil des Jahres ein, daneben habe ich am meisten Zeit in mein Mandat bei der Onlinebank Flowbank investiert. Es gibt verschiedene Projekte mit Partnern und Sponsoren, bei denen ich in beratender Funktion tätig bin. Ich schaue mir genau an, was ich machen möchte. Denn ich will mich nicht verzetteln. Ich hatte schon kurz vor Ende von Rogers Karriere – eigentlich bis heute – immer wieder Angebote, andere Spieler zu coachen. Auch von sehr interessanten Namen. Aber ich bin froh, habe ich bis jetzt nichts angenommen.
Warum?
Ich wäre gar nicht bereit gewesen, so schnell schon wieder mit einem Spieler auf die Tour zu gehen. Aber ausschliessen möchte ich es trotzdem nicht. Es müssten für mich mehrere Faktoren stimmen. Denn irgendwann stellst du dir schon die Frage, für wen du noch einmal das Haus verlässt.
Welche Faktoren wären das?
Der Spieler muss ein guter Typ sein, menschlich muss es einfach passen. Daneben sollte er hungrig und lernwillig sein – er muss zuhören können. Und es muss auch finanziell stimmen.
Trotzdem sagten Sie früher im Jahr gegenüber der «Tribune de Genève», Sie seien nicht daran interessiert, viel Geld zu verdienen. Provokant gefragt: Haben Sie als langjähriger Federer-Coach nicht ausgesorgt?
(Schmunzelt.) Nein, es ist nicht so, dass ich mich nun mein Leben lang zurücklehnen könnte und nichts mehr machen müsste.
Sie lebten auf der Tour lange ein Leben der Unplanbarkeit. Schätzen Sie die momentane Ruhe?
Ja, ich geniesse das momentan. Irgendwann bist du auch ein wenig müde von diesen Unplanbarkeiten. Und doch bin ich nach wie vor viel unterwegs. Meine Frau Claudia hätte nun eigentlich Ferien gehabt. Und dennoch musste ich sagen: Bei den Schweizer Turnieren ist es meine Aufgabe, vorbeizuschauen. Ich habe ein Mandat in Gstaad, und beim Zug Open in dieser Woche bin ich Turnierbotschafter. Insgesamt versuche ich, mich nun aber mehr meiner Frau anzupassen. Früher war es umgekehrt. Jetzt möchte ich ihr das zurückgeben.
Wie viel Kontakt haben Sie mit Ihrem langjährigen Weggefährten und Freund Federer noch?
Erst kürzlich haben wir uns über Facetime gesehen, weil seine beiden Töchter Geburtstag hatten. Ansonsten ist der Kontakt unregelmässig. Roger ist nach wie vor viel unterwegs. Er hat noch immer ein spezielles Leben.
Sie sassen kürzlich in Wimbledon mit ihm in der Royal Box.
Ja, er fragte mich, ob ich ihn begleiten möchte. Auch sonst sind wir durch andere Dinge weiterhin verbunden. Durch den Sponsor Uniqlo etwa. Oder den Laver Cup. Und in diesem Jahr haben wir uns schon zweimal in Dubai getroffen. Einmal, als ich dort gerade Ferien machte.
Wie erleben Sie Federer heute?
Er geniesst das Leben nach der Karriere. Er war schon immer ein Weltmeister darin, das Beste aus einer Situation zu machen – so fröhlich und positiv, wie er ist. Er kann nun den Fokus auf andere Dinge legen: auf die Familie, den Hausbau, seine Stiftung und die Sponsoren. Den Stress, vor Turnieren immer wieder die Anspannung aufzubauen, hat er jetzt nicht mehr. Das wird er sicher schätzen. Denn das Tennis an sich war nie das Problem. Er hätte wohl bis 100 weitergespielt, wenn er gekonnt hätte.
Auch Stan Wawrinka erlebt gerade seinen x-ten Frühling. Er strotzt mit 38 noch immer vor Tatendrang und träumt von einem weiteren Titel. Was ist für ihn noch möglich?
Eigentlich müsste er nach seinem Doppel-Titel in Gstaad jetzt aufhören. (Lacht.) Nein, im Ernst: Ich wurde auch während der Zeit, als Roger noch spielte, immer wieder gefragt, ob mich seine Erfolge überrascht hätten. Nun ist es bei Stan genau gleich: Ich bin vorbereitet auf die Überraschung, denn ich weiss, wie viel Arbeit er reinsteckt. Stan lebt für diesen Sport, er ist immer unter Strom, zeigt eine unglaubliche Leidenschaft. Es ist faszinierend. Wenn er gesund bleibt, traue ich ihm auf jeden Fall noch einen Titel zu. Wo auch immer. Kann er noch einmal ein Grand-Slam-Turnier gewinnen? Das sieht wohl schwierig aus. Aber auch hier sage ich: Stan darf man nie abschreiben. Er hat mehrfach bewiesen, wozu er in der Lage ist. Das ist auch bei uns im Davis-Cup-Team immer wieder Thema.
Inwiefern?
Stan ist einfach wie ein Dieselmotor. Je länger er läuft, desto besser wird er. Ich hoffe das Beste für ihn – und dass er es noch möglichst lange machen kann.
Wawrinkas Doppelpartner in Gstaad war der 20-jährige Dominic Stricker, der aufregende Wochen hinter sich hat.
Wenn man seinen Werdegang betrachtet, steht er an einem guten Punkt. Für sein Alter ist er schon sehr weit (aktuell ATP 128, d. Red.). Wenn man mich vor fünf Jahren gefragt hätte, hätte ich seine aktuelle Position wohl so unterschrieben. In Paris hat er (als Lucky Loser, d. Red.) das erste Mal im Haupttableau eines Grand-Slam-Turniers gespielt, in Wimbledon konnte er sich erstmals auf sportlichem Weg dafür qualifizieren. Seine Resultate dürfen uns zuversichtlich stimmen.
Der 21-jährige Hopman-Cup-Überflieger Leandro Riedi, die Weltnummer 159, bewegte sich lange auf gleichem Niveau, musste dann aber einige Rückschläge einstecken. Wird er im Schatten von Stricker gerade unterschätzt?
Schwierige Frage. Domi hat natürlich davon profitiert, dass er derjenige war, der damals den Junioren-Final der French Open gegen Leandro gewonnen hatte und auch danach ein paar Ausrufezeichen auf der Tour setzen konnte. Er ist da Leandro vielleicht für kurze Zeit enteilt, weil dieser für den nächsten Schritt als Profi etwas länger brauchte. Am Ende ist Tennis aber ein Marathon – da ist mal der eine vorne und mal der andere. Auch Leandro hat viel Potenzial. Ich denke, bei ihm ist es nun einfach wichtig, ruhig zu bleiben. Auch er wird seinen Weg machen.