Seine Aufforderung in Richtung Spielerbox war laut. Doch der Aufschrei danach fast noch lauter. Holger Rune hatte im Vorjahr an den French Open für einen Skandal gesorgt, als er während der Partie gegen Casper Ruud völlig die Nerven verlor und seine in der Box sitzende Mutter Aneke aus dem Stadion schickte. «Wenn du mir nicht helfen kannst, dann geh!», schrie der damals 19-Jährige gemäss skandinavischen Medien.
Hinterher bereute der junge Heisssporn seinen Ausraster und meinte, er werde versuchen, seine «Emotionen unter Kontrolle» zu bringen. Doch dass er seine eigene Mama aus dem Stadion geworfen haben soll, dementierte er öffentlich. Wie dem auch sei. Ein Jahr später sieht die Welt wieder ganz anders aus: Rune legte in Wimbledon bis zu seinem Viertelfinal-Out gegen Carlos Alcaraz einen starken Lauf hin – und widmete diesen prompt seiner Mutter.
Nach seinem Viersatz-Erfolg über Grigor Dimitrov meinte er: «Das war eine der besten Leistungen meiner Spielerbox überhaupt. Wir haben im Vorfeld besprochen, dass dies in Wimbledon besonders wichtig ist. Da musst du alles geben, was du hast. Alles für den Erfolg. Meine Mutter war richtig geladen!»
Box kann «Zünglein an der Waage sein»
Rune unterstrich damit die Wichtigkeit der Personen, die Partie für Partie in der Spielerbox sitzen und für die Zuschauer vor dem Screen regelmässig eingeblendet werden – und das schon lange bevor nun auch in Wimbledon das Coaching erlaubt worden ist.
«Der psychische Einfluss ist enorm», sagt auch SonntagsBlick-Tennisexperte Heinz Günthardt. «Weil sich das Niveau der Spieler auf Weltklassestufe oft nur minim unterscheidet, ist das Selbstvertrauen umso ausschlaggebender. Hier können sich die wichtigen Spiele entscheiden. Sagen wir, die Box pusht dich allein durch ihre Ausstrahlung pro Satz zu vier Punkten – dann kann sie bereits das Zünglein an der Waage sein.»
Das bestätigt auch Stephan Stricker, Vater und Manager des 20-jährigen Schweizer Nachwuchstalents Dominic Stricker, der in Wimbledon bei seiner Premiere gleich in die zweite Runde vorstiess, dort aber an Top-10-Spieler Frances Tiafoe hängenblieb. Die Art und Weise der Unterstützung sei im Team Stricker als zentraler Punkt behandelt worden: «Wer nervös ist, sich aufregt oder einem verlorenen Punkt nachtrauert, darf sich dies nicht anmerken lassen. Das könnte Domi auf dem Court verunsichern. Die Vorgabe ist klar: In jeder Situation positiv bleiben.» Coach Dieter Kindlmann rief während des Duells mit Tiafoe immer wieder rein: «Sei mutig, sei mutig!» Andere in der Box nickten nur oder ballten die Faust.
Federer schien die Box nicht zu brauchen
Günthardt sagt: «Die Körpersprache ist extrem wichtig. Aber du musst als Coach oder Betreuer auch ein Gefühl dafür entwickeln, in welchem energetischen Zustand dein Spieler gerade ist. Wie fühlt er sich? Wie ist sein Adrenalinpegel? Carlos Alcaraz war im Paris-Halbfinal gegen Novak Djokovic zu Beginn definitiv zu hochtourig unterwegs.» Mit der Konsequenz, dass der 20-jährige Spanier am ganzen Körper verkrampfte und die Partie letztlich verlor.
Alcaraz gehört zu jenen Spielern, die fast nach jedem wichtigen Punkt den Blickkontakt mit der Entourage suchen. «Andere erwecken nicht den Eindruck, als ob sie die Box dauernd bräuchten. Wie Roger Federer zum Beispiel, der vieles mit sich selbst ausmachte. Dafür hatte er auch immer wieder prominente Gäste.» Mode-Ikone Anna Wintour etwa, Schauspieler Bradley Cooper oder Sängerin Gwen Stefani waren alle schon gekommen, um Federer vor Ort zu unterstützen. «Keine Frage: Das untermauert zum einen deinen Status. Aber es kann auch ein Zusatzansporn sein», so Günthardt: «Oder anders ausgedrückt: Ist hoher Besuch da, reisst du dich lieber zusammen.»
Motivator, Blitzableiter, Abfalleimer
Heisst: Nicht so wie Rune. Oder auch Daniil Medwedew, der 2021 ebenfalls seinen Trainer aus der Arena schmiss. Hinterher erklärte der Russe die Krux des Spielerbox-Daseins: «Ich brülle den Coach an, bin aber auf mich selbst sauer. Da muss eben einer herhalten.»
Muss er? Ist diese öffentliche Herabwürdigung wirklich tragbar? Günthardt, der mit den Schweizer Frauen letzten November den Billie Jean King Cup gewann und früher Weltnummer eins Steffi Graf trainierte, sagt: «Das muss jeder für sich selbst abwägen. Mal bist du der Motivator, mal der Blitzableiter, mal der Abfalleimer – wobei ich mit Letzterem meine Mühe hätte.»
Günthardt sagt, er habe «Glück gehabt» in seiner Karriere: «Steffi Graf hat vielleicht mal böse geguckt, aber ansonsten hat sie ihre schlechten Tage nie an mir ausgelassen. Das war mein Privileg.»
Ivanisevic: «Djokovic hat uns gequält»
Andere Coaches haben sich eine derart dicke Haut zugelegt, dass sie sämtliche verbalen Angriffe ihrer Spieler über sich ergehen lassen können. Djokovic-Coach Goran Ivanisevic etwa verriet nach dem gewonnenen French-Open-Final seines Schützlings Anfang Juni: «Er ist kein einfacher Kerl – vor allem, wenn etwas nicht so läuft, wie er will. Er hält einen immer unter Stress. Er hat uns gequält und uns die Nägel abgezogen.» Es gebe noch einiges mehr zu erzählen, doch das könne er nicht in die Öffentlichkeit tragen, meinte er mit einem Lachen: «Aber wir leben noch. Und ich bin sehr stolz auf ihn.»
Apropos Djokovic: Unvergessen sind die geheimnisvollen Szenen in Paris letzten November, als seine Betreuer auf der Tribüne ein Mittelchen mischten und dabei penibel darauf achteten, dass die Substanz in der Flasche nicht gefilmt werden konnte. Auch solche Dinge passieren in der Box.
Stan Wawrinka findet zusätzlichen Schub, wenn Freundin Sara Hannoun oder seine Familie in der Box sitzt. Und Belinda Bencic sucht immer wieder – auf Slowakisch – die Konversation mit Coach Matej Liptak sowie Freund und Fitnesstrainer Martin Hromkokvic. Und in Wimbledon lud sie nach langer Zeit wieder einmal Vater Ivan und Mutter Dana ein. Es wurde nach ihrem Verletzungs-Comeback ein gutes Turnier. Von der familiären Box getragen, schrammte sie knapp am Achtelfinalsieg über Weltnummer eins Iga Swiatek vorbei.