Diese Frau ist schon jetzt die ganz grosse Story der diesjährigen Wimbledon-Ausgabe. Elina Switolina (28) aus Odessa, der Hafenstadt am Schwarzen Meer, die berühmt ist für ihre schönen Strände und das monumentale Opernhaus. Dort war die Ukrainerin schon als Ehrengast bei einem Filmfestival eingeladen, doch wegen des russischen Angriffskrieges ist an eine normale Rückkehr in die Heimat nicht zu denken.
Switolina muss sich derzeit wie in einem eigenen Film vorkommen. Es wäre ein dramatischer Thriller, in dem sie sehnlichst auf ein Happy End hofft, aber auch genau weiss, dass ein guter Ausgang nicht in ihren eigenen Händen liegt.
Was den sportlichen Teil dieses Streifens betrifft, hat sie das Soll längst erfüllt. Ja, gar weit übertroffen. Sie hat in Wimbledon die Weltranglistenerste Iga Swiatek (22) besiegt und steht sensationell im Halbfinal. Es ist ein Tennis-Märchen, das alle verblüfft zurücklässt.
Erst vor neun Monaten hat Switolina ein Kind zur Welt gebracht. Letzten Oktober wurde sie Mutter der kleinen Skai. Es ist der erste gemeinsame Nachwuchs mit Ehegatte und Ex-Top-10-Spieler Gaël Monfils (36). Doch der Freudentag fiel mitten in eine Zeit, die für Switolina von grosser Sorge geprägt war. Denn auch Odessa blieb von Bomben nicht verschont. Die Angst um die dort wohnhaften Familienmitglieder habe sie anfänglich beinahe daran gehindert, wieder einen Tenniscourt zu betreten, sagt sie rückblickend. Ihre Grossmutter habe von Raketen berichtet, die von Schiffen aus mitten in die Stadt hineingeschossen wurden.
Durch den Krieg «ruhiger auf dem Platz»
Switolina hat es irgendwie hingekriegt, diese Bandbreite an Eindrücken so zu verarbeiten, dass sie Kraft daraus ziehen kann. Töchterchen Skai ist ihr grösster Antrieb. Und der Krieg pusht sie in jeder Partie über ihr Limit hinaus – weil sie als Tennis-Exponentin «Verantwortung» spürt: «Der Krieg hat mich stärker gemacht, gerade in mentaler Hinsicht. Schwierige Situationen in einem Spiel sind für mich kein Desaster mehr. Es gibt Schlimmeres im Leben.» Die Kombination mit der Geburt ihres Kindes habe alles relativiert: «Ich habe eine andere Sichtweise auf die Dinge im Leben. Darum bin ich ruhiger auf dem Platz.»
Ein Jahr lang machte Switolina wegen ihrer Schwangerschaft Pause von der Tennis-Tour, erst im April dieses Jahres kehrte die frühere Weltnummer drei zurück. In Wimbledon durfte sie nur dank einer Wildcard direkt im Hauptfeld starten. Doch dass sie so lange weg war, ist ihr auf dem Court nicht anzumerken. Und was ihre Ausstrahlung betrifft, sind ihre Auftritte ohnehin stärker denn je. Vom ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski (45) bekam sie eine Auszeichnung für den Einsatz für ihr Heimatland. Und in Wimbledon forderte sie von den Organisatoren: «Sie müssen mit einem Statement an die Öffentlichkeit gehen, dass es keine Handshakes zwischen russischen, belarussischen und ukrainischen Spielern geben wird.» Dies, um Buhrufe aus dem Publikum zu vermeiden.
Switolina will die grosse Wimbledon-Bühne nutzen, um ihrer Heimat etwas zurückzugeben: «Es lässt mein Herz schmelzen, wenn ich im Internet sehe, wie Kinder in der Ukraine vor dem Handy sitzen und die Spiele schauen. Ich bin so glücklich, dass ich ihnen wenigstens ein bisschen Freude im Leben schenken kann.»
Schlägt sie jetzt auch noch Marketa Vondrousova (Tsch/24), stünde sie im Final – und hätte dort die Chance, als erste Frau mit einer Wildcard Wimbledon zu gewinnen. Doch als Happy End in ihrem Film zählt nur eines: Frieden in ihrem Land.