Es ist die dunkelste Stunde in der Geschichte des Frauen-Skirennsports. Am 29. Januar 1994 stirbt die Österreicherin Ulrike Maier nach einem Sturz bei der Abfahrt in Garmisch (De). Sie wurde nur 26 Jahre alt. Einen tödlichen Unfall in einem Rennen hatte es im Weltcup vorher nie gegeben. Und auch seither, in den 30 Jahren danach, starb nie mehr eine Athletin nach einem Crash.
Dennoch bleibt die Tragödie unvergessen – vor allem für jene, die damals in irgendeiner Form im Weltcup involviert waren. Jan Tischhauser (73) ist einer dieser Personen. Der Zürcher Oberländer war hinter Kurt Hoch stellvertretender Renndirektor der FIS und wurde von Maiers damaligem Verlobten Hubert Schweighofer wegen fahrlässiger Tötung angeklagt. «Die Herrschaften werden dafür bezahlen. Ich werde die Verantwortlichen verfolgen bis in die letzte Instanz», kündigte Schweighofer an. Man habe ihm seine Lebensgefährtin genommen und die Mutter einer viereinhalbjährigen Tochter, sagte er einen Tag nach Maiers Tod noch an der Unfallstelle. Er ergänzte: «Ich empfinde sehr grossen Hass auf die FIS-Verantwortlichen.»
«Plötzlich kam der Anwalt auf uns zu»
Schweighofer und sein Anwalt kämpften mehr als zwei Jahre lang. Dann, Ende April 1996, standen Hoch und Tischhauser in München vor Gericht – sie wurden der fahrlässigen Tötung beschuldigt. Der Prozess endete mit einem Vergleich: Beide zahlten 10’000 Mark an die Bergwacht in Garmisch, die FIS überwies 600’000 Franken an einen Fonds zugunsten von Maiers Tochter Melanie. Das Verfahren wurde eingestellt, weil «eine etwaige Schuld beider Angeklagten, falls sie festgestellt werden könnte, gering wäre», erklärte der Richter.
Tischhauser, der am Tag des Unfalls gar nicht dabei war – er bereitete das nächste Rennen in der Sierra Nevada (Sp) vor – erinnert sich: «Als wir am ersten Tag in den Gerichtssaal kamen, standen 30 Journalisten da. Es war ein Blitzlicht-Gewitter, es wurde gefilmt. Der Prozess begann und war sehr hart – unter anderem wurden Fotos vom Leichnam präsentiert, wie er auf einem Tisch untersucht wurde. Am zweiten Tag kam dann plötzlich der Anwalt von Schweighofer zu uns und bot einen Vergleich an. Wir waren überzeugt, dass es das Beste für alle ist.» Letztlich wurde das Geld «nicht aus rechtlichen Gründen, sondern aus moralischer Verantwortung» an einen Fonds zugunsten von Tochter Melanie überwiesen.
Tödlicher Verschneider bei 104,8 km/h
Doch wie kam es an jenem 29. Januar 1994 in Garmisch überhaupt zu einer solchen Tragödie? Rückblick. Es ist 13.58 Uhr, als sich Ulrike Maier mit der Startnummer 32 aufmacht, die Kandahar-Piste zu zähmen. Die Österreicherin aus Rauris im Salzburgerland zählt nicht zu den Favoritinnen, die Abfahrt ist nicht ihre Spezialdisziplin. 1989 in Vail (USA) und 1991 in Saalbach (Ö) war sie Weltmeisterin im Super-G geworden, eigentlich hatte sie aufhören wollen. Dass sie weitermachte, war insofern erstaunlich, als dass sie beim letzten grossen Titel bereits Mama war.
Maier zeigt auf der eisigen Piste, die am Vortag noch aufgeraut worden war, eine Fahrt ohne Probleme. Doch dann passiert es: In der Traverse vor dem Zielhang verschneidet sie bei 104,8 km/h. Sie versucht, den rechten Ski wieder zu sich zu ziehen, schafft es aber nicht. Maier stürzt nach oben und knallt in einen Schneekeil, auf dem ein Strohsack zum Schutz der Athletinnen befestigt wurde. Dahinter war die Zeit- und Geschwindigkeitsmessung fixiert. Der Aufprall ist heftig. Maiers Kopf wird mit unfassbarer Kraft zur Seite geschleudert. Die Wucht ist so gross, dass ihr nicht nur der Helm vom Kopf gerissen wird, sondern auch der Kopf von der Wirbelsäule. Maier bleibt regungslos liegen, sie ist sofort tot.
«Schlimm ausgesehen, aber …»
Im «Sportpanorama» einen Tag später sagt der damalige FIS-Generalsekretär Gian-Franco Kasper (1944–2021): «Ich habe den Sturz am Fernsehen gesehen. Im ersten Moment bin ich erschrocken – so wie alle anderen auch. Obwohl der Sturz vom Bild her im ersten Moment nicht so tragisch ausgesehen hat. Es war ein Fahrfehler, da sind wir uns, glaube ich, alle einig. Ein Verschneider, der äusserst tragisch geendet hat. Es hat schlimm ausgesehen – aber nicht so schlimm, wie es danach wirklich war.» Es ist eine Aussage, die jeden staunen lässt, der den Sturz noch im Kopf hat oder ihn sich auf Youtube anschaut.
Matthias Hüppi (65), heute Präsident des FC St. Gallen, führte damals das Gespräch im «Sportpanorama». Er meint: «Die Aufarbeitung des so tragischen und traurigen Unfalls ging uns allen sehr nahe. Schwere Stürze haben einem immer wieder vor Augen geführt, dass der Rennsport immer eine Gratwanderung ist und bleibt. Bei Ulrike Maier kam noch der Umstand dazu, dass sie Mutter eines Töchterchens war.»
Aus heutiger Sicht kaum zu glauben: Das Rennen wurde fortgesetzt, nachdem man Maier mit dem Helikopter abtransportiert hatte. Die Italienerin Isolde Kostner (48) setzte sich an die Spitze, gewann und feierte ihren ersten von 15 Weltcupsiegen. Zwar war Maiers Tod offiziell noch nicht bestätigt worden, die Siegerehrung im Zielraum wurde aber trotzdem abgehalten, als wäre nichts gewesen. Erst später wurde das Rennen am Sonntag abgesagt, alle Teams reisten sofort ab.
Vreni Schneider dachte an Rücktritt
Eine der Personen, die Ulrike Maier aus dem Ski-Zirkus gut kannte, war Vreni Schneider (59). Sie erzählt: «Ulli und ich verstanden uns immer sehr gut, obwohl wir Konkurrentinnen waren. Als ich die 14 Rennen in Serie gewann, war sie oft Zweite. Als sie dann im Januar 1994 in Maribor vor mir siegte, freute ich mich deshalb von Herzen für sie, doch eine Woche später war sie tot.» Nach der Tragödie habe sie – so wie andere Fahrerinnen auch – später daran gedacht, zurückzutreten, so die Elmerin. «Ich weiss bis heute nicht, warum ich es nicht getan habe.»
In der Sierra Nevada, wo nur wenige Tage später die nächsten Rennen gestartet wurden, sei die Stimmung «sehr speziell» gewesen, viele Fahrerinnen hätten geweint. «Im ersten Slalom-Lauf wagte ich nicht einmal zu kämpfen. Ich kam deshalb mit zwei Sekunden Rückstand ins Ziel. Doch in Durchgang 2 lief es auf einmal, und ich siegte noch. Dieser Lauf war wahrscheinlich der beste meines Lebens. Während der Fahrt dachte ich mir: Ich fahre für Ulli. Sie möchte bestimmt nicht, dass ich nicht mehr kämpfe.» An Maiers Beerdigung ging Schneider nicht. Ihre Familie habe ihr davon abgeraten und gesagt: «Wenn du an die Beerdigung gehst, wirst du wahrscheinlich nie mehr ein Rennen fahren. So traurig wird das sein.»
«Maier war ein echtes Vorbild»
Maiers ehemalige Zimmerkollegin, Monika Maierhofer, war nicht nur bei der Beisetzung – nein, sie hielt auch die Grabrede. «Ulli war sehr lebenslustig und warmherzig. Und später ein echtes Vorbild: Wie sie etwa den Spagat als Mama geschafft hat», erzählt sie in der «Kronen Zeitung». Sie habe geglaubt, das Risiko so dosieren zu können, dass es passe.
Die Frau, die ihren einzigen Weltcupsieg 1992 beim Slalom in Grindelwald BE gefeiert hatte, sah sich den Sturz ihrer Freundin nur einmal an. «Damals live im Fernsehen. Die Bilder sind jedoch immer noch sehr präsent in meinem Kopf. Ich weiss, dass ganz viel Platz da war, um gefahrlos zu stürzen. Doch da war halt dieser Pflock für die Messung.» Auf die Frage, ob man Maiers Tod hätte verhindern können, sagt sie: «Ach, man hat damals das Beste für die Sicherheit getan. Nachlässig – das würde ich mich wirklich nicht trauen zu sagen. Vielleicht war es eben vorbestimmt.»
Taillierte Ski waren fast wie Waffen
Fakt ist: In der Saison 1992/93 waren die ersten Versuche mit taillierten Ski gemacht worden. Radius-Reglemente gab es noch nicht. «Mit dem Carving-Ski kam etwas Neues auf uns zu. Aber uns fehlten noch die Erfahrungswerte», sagt Tischhauser. Ob Maier auch ohne taillierte Ski gestürzt wäre, kann er nicht sagen, «aber ich sah in meiner ganzen Laufbahn vorher nie einen ähnlichen Sturz. Dass eine Fahrerin bei einem Verschneider so nach oben gerissen wurde, war nicht vorstellbar».
Passiert ist es dennoch. Hoch sagte vor Gericht: «Wir haben damals nur die positiven Eigenschaften dieser Ski gesehen, wir haben keine negativen Erfahrungswerte gehabt. Jetzt sind wir nicht mehr weit davon entfernt, diese Ski als Waffe einzusetzen. Es ist alles noch viel unberechenbarer geworden.» Was die Wirkung der taillierten Ski damals zusätzlich verstärkte, waren die neuartigen Bindungsplatten. «Die Athleten fuhren wie auf Stelzen. Man konnte sich keinen Fehler erlauben», sagt Tischhauser.
Sicherheit? «Es ist nie genug»
Die FIS führte nach Maiers Tod Maximalwerte für Ski-Radien und Bindungsplattenhöhen ein, auch die Sicherheitsnetze wurden laufend verbessert. Dennoch fragt man sich: Wieso muss immer etwas Schlimmes passieren, ehe reagiert wird?
Peter Gerdol ist aktueller FIS-Renndirektor im Frauen-Ski-Zirkus. Er meint: «Es stimmt nicht, dass vorher immer etwas passieren muss. Man hat in den letzten Jahrzehnten viele Dinge entwickelt, ohne dass etwas passierte. Oder vielleicht geschah ein Unfall, der Athlet verletzte sich aber nicht.»
Die Entwicklung gehe immer weiter, man suche ständig nach möglichen Verbesserungen, so Gerdol. Das Motto? «Es ist nie genug.» Der Slowene findet, dass der Skirennsport heute viel sicherer sei als früher. «Andere Sportarten machen mir in Bezug auf den Sicherheitsaspekt mehr Angst. Wenn ich zum Beispiel Mountainbike-Downhill-Rennen schaue und sehe, wie sie durch den Wald rasen.»
«Will nicht, dass die Mami am Kopf blutet»
So oder so: Für Maier kam die Sicherheitsentwicklung zu spät. Sie machte einen Fehler und bezahlte mit ihrem Leben. Schweighofer sass während des Unfalls seiner Verlobten mit ihrem Töchterchen Melanie vor dem Fernseher. Das Mädchen soll nach dem Sturz ihrer Mutter gesagt haben: «Ich will nicht, dass die Mami am Kopf blutet.»
Hüppi meint heute: «Dass aus jedem tragischen Ereignis Schlüsse für die Verbesserung der Sicherheit von Fahrerinnen und Fahrern gezogen wurden, war sicher wichtig, für die betroffenen Angehörigen aber leider natürlich zu spät.»
Hubert Schweighofer, der Differenzen mit Ulrike Maiers Eltern gehabt haben soll, ist längst verheiratet. 1996 gründete er mit seiner Ehefrau Michaela, mit der er zwei weitere Kinder hat (Michael und Emili), in Rauris eine Skischule. Die ganze fünfköpfige Familie ist gemäss Homepage in der Skischule involviert. Melanie ist heute 35 Jahre alt und selbst Mutter. Auf Anfrage schreibt Hubert Schweighofer, dass weder er noch die anderen sich äussern wollen.
Und Maier? Sie hatte einmal gesagt: «Wenns dir vorbestimmt ist, passierts dir halt. Dem Schicksal kann man sowieso nicht entrinnen.» Mit dem Wissen, was danach geschah, hinterlassen die Sätze nur etwas: einen riesigen Kloss im Hals.