Eigentlich müsste Marlen Reusser (31) angespannt sein vor dem WM-Zeitfahren am Donnerstag. Als Favoritin hat sie grosse Chancen, nach dem Sieg mit dem Mixed-Team erstmals auch Einzelweltmeisterin zu werden. Stattdessen gibt sie in ihrer gewohnt lockeren Art Auskunft. «Der grösste Gegner im Rennen ist mein eigenes Team», lacht sie.
Ihr Team heisst SD Worx, es hat mehrere Weltklasse-Fahrerinnen unter Vertrag. Es räumte an der Tour de France Ende Juli ab, holte inklusive Reusser mit vier verschiedenen Fahrerinnen vier von acht Etappensiegen und durch Demi Vollering den Gesamtsieg. Diesen Donnerstag ist die Holländerin plötzlich ihre Gegnerin.
Die vielen zweiten Plätze? Kein Problem
Druck müsste Reusser auch deswegen haben, weil sie bei Grossanlässen bisher dreimal Zweite wurde: beim WM-Zeitfahren 2020 in Italien, erneut ein Jahr später in Belgien und beim Olympia-Zeitfahren 2021 in Tokio. Bei der WM letztes Jahr in Australien holte sie Bronze. Gold an einem Grossanlass fehlt noch. Doch dieses Jahr sieht die Ausgangslage anders aus.
Rad-WM aktuell
In der Zwischenzeit hat die Bernerin, die in Hindelbank auf einem Bauernhof aufwuchs, zwei ganz grosse Siege eingefahren. Seit Juni darf sie sich Tour-de-Suisse-Gesamtsiegerin nennen, seit Juli Zeitfahr-Königin an der Tour de France. Scheinbar locker hat sich die Frau, die von Beruf Ärztin ist und erst mit 27 Jahren auf die Karte Radsport setzte, zur Siegfahrerin gemausert. Aber da gibt es noch einen Schritt, den sie machen will.
«Auf Berndeutsch würde man sagen: Hosen runter»
«Mental hat es bis jetzt noch nicht so viel dafür gebraucht», sagt Reusser. «Bei den Rundfahrten, die ich bis jetzt gewinnen konnte oder wo ich sehr gute Resultate erzielte, kam es für mich bisher noch nie zu einem Showdown.» Sie war noch nicht so stark in einen direkten Kampf verwickelt wie zum Beispiel ihre Teamkollegin Vollering beim Kletter-Final am Tourmalet an der diesjährigen Tour.
Was nicht ist, kann noch werden. «Es ist etwas, das ich in Zukunft vielleicht auch probieren will», verrät Reusser. «Dafür braucht es die Bereitschaft – wie man auf Berndeutsch sagen würde – die Hosen herunterzulassen.» Auch hier wieder kommt die lockere Art der kräftig gebauten Rollerin zum Vorschein.
Hauch von Showdown über 36 km?
Einen Showdown von Frau gegen Frau, wie ihn sich Reusser vorstellt, kann es beim Zeitfahren am Donnerstag über 36,2 km in Sterling nördlich von Glasgow nur indirekt über die Zeit geben.
Aber besonders auch wegen Teamkollegin Vollering gilt ein Sekunden-Krimi als nicht unwahrscheinlich. Gut möglich also, dass trotzdem ein Hauch von Showdown-Stimmung aufkommt. Und dann gilt in Reussers Berndeutsch: «Hosen runter!»