Früher wurde Marlen Reusser (31) belächelt. Nicht von allen, nein. Aber es gab Leute, die der Bernerin keine Karriere im Profi-Feld zutrauten. Warum? Vielleicht, weil sie eine Frau ist. Vielleicht auch, weil sie eine ausgebildete Ärztin ist. Vor allem aber, weil sie erst mit 27 Jahren den Weg in den Spitzensport einschlug. Spätestens jetzt wird Reusser nicht mehr unterschätzt. Nach zwei Europameistertiteln, dazu WM- und Olympiasilber, gewinnt sie die Tour de Suisse. «Ein Traum wird wahr», sagt sie.
Auf ihre Nörgler von früher angesprochen, muss Reusser schmunzeln. Sie habe auch vor ihrer Profi-Karriere gezeigt, dass sie viel leisten könne – bloss hätten es nicht alle bemerkt. Tatsächlich wurde Reusser schon 2017 Schweizer Meisterin im Zeitfahren, ohne dafür gross zu trainieren. Insider wussten, was in ihr steckte. Sie wussten: Reusser ist ein Diesel.
Im Peloton die Ausnahme
Ein Diesel? So werden kräftige Radfahrer und Radfahrerinnen genannt, die über lange Zeit konstant hohe Wattzahlen drücken können. So wie Stefan Küng (29) bei den Männern oder eben Reusser bei den Frauen. Dabei passt der Kraftstoff Diesel eigentlich nicht zur Frohnatur aus Hindelbank BE. Reusser war einst Präsidentin der Jungen Grünen des Kantons.
Sie wird oft gefragt, wie sie es schafft, auf dem Velo so viel Power zu generieren. Talent und Fleiss spielen eine wichtige Rolle, klar. Aber: Sie ist auch überzeugt, dass ihre Ernährung entscheidend ist. «Ich versuche, mich möglichst gesund zu ernähren», sagt sie. Reusser ist Vegetarierin. Und damit im Peloton eine Ausnahme – in ihrem Team SD Worx gibt es unter den anderen 14 Fahrerinnen keine andere, die sich fleischlos ernährt. «Die Zahl könnte grösser sein. Viele wären von der Gesinnung Vegetarierinnen, haben aber Angst, dass sie ohne Fleisch etwas verpassen.»
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Reusser hat ein Diplom in Sporternährung, sie kennt sich mit dem Thema aus. Angst vor einer Unterversorgung, weil sie kein Fleisch isst, hat sie nicht. «Das ist gar kein Problem, ich würde anderen gerne helfen, wenn sie mich fragen würden. Gleichzeitig möchte auch keine Ideologie sein – jede kann essen, wie sie will.»
280 Säue im Stall prägten Reusser
Besonders ist, dass Reusser auf einem Bauernhof aufwuchs, der auch Schlachttiere hatte. Zum Beispiel 280 Schweine. Trotzdem wurde sie schon als Kind Vegetarierin. «Gemäss den Richtlinien produzierten wir mit hohen Standards, doch das reichte für mich nicht.» Geprägt hat sie der Stall gleich neben dem grossen Wohnhaus. «Da waren so viele Säue in Buchten eingepfercht, dass sie durchdrehten. Sie fingen an, einer Sau den Ringelschwanz anzufressen. Das hat mich als Mädchen extrem getroffen.»
Reusser bekam nie mehr Lust auf Fleisch. Auch dank Käse, Hülsenfrüchten und anderen Nahrungsmitteln fühlt sie sich topfit – und hat obendrauf ein gutes Gewissen. «Wichtig ist auch die Kombination der Produkte. Die beste Kombo für den Körper sind Kartoffeln und Ei – eine spanische Tortilla, es gibt nichts Besseres.»