Für seine Fachkompetenz wird er weit geschätzt: Beat Wettstein (63). Der Zürcher ist bei der Tour de Suisse seit Jahrzehnten der «Mister Sicherheit». In diesem Jahr ist er zum 32. Mal dabei. Wettstein hat in dieser Zeitspanne schon viel erlebt. «Aber das, was mit Gino passiert ist, trifft mich wahnsinnig», sagt er.
Wettstein war 1990 erstmals bei der Tour dabei, damals als Polizei-Motorradfahrer. Es folgten neun Jahre in der Sicherheitsdienststaffel und 20 Jahre als deren Chef. Seit zwei Jahren ist Wettstein Bereichsleiter Streckensicherheit. Keiner weiss besser, wo Gefahren auf und neben der Strecke lauern. Kurven, Kreisel, Verkehrsteiler – nichts, das gefährlich sein könnte, entgeht seinen Augen. «Unsere Aufgabe ist es, alle sicher von A nach B zu führen. Dabei ist es egal, ob im Fahrerfeld jemand Erster oder Letzter ist.»
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Gino Mäder war auf der 5. Tour-Etappe von Fiesch VS nach La Punt GR nicht erster und nicht letzter. Er kämpfte weder um den Tagessieg, noch um eine Top-Platzierung im Gesamtklassement. Und trotzdem stürzte er bei der ersten engen Kurve nach der Überquerung des Albulapasses so schwer, dass er tags darauf im Kantonsspital von Chur verstarb. «Ich mache mir immer Vorwürfe, wenn etwas passiert. Es geht mir viel durch den Kopf, wenn ich an Ginos Unfall denke», sagt Wettstein.
Bissegger und Dillier sahen keine Gefahr
Derzeit scheint es unwahrscheinlich, dass Wettstein oder sonst jemand in der Tour-Organisation einen Fehler gemacht hat. Was in der Abfahrt des Albulapasses genau geschah, ist weiter Gegenstand von Ermittlungen. Ebenfalls unklar bleibt, ob sich Mäder und der an der gleichen Stelle gestürzte Magnus Sheffield (21, USA) vor ihrem Fall in die Tiefe touchiert haben.
Fakt ist: Kein Velo-Profi äusserte bezüglich jener Kurve Kritik. Der Vorwurf von Belgiens Topstar Remco Evenepoel (23), es «sei nicht schlau», ein Ziel am Ende einer Abfahrt zu machen, war allgemein formuliert. Stefan Bissegger (24) sagte, er habe die Kurve nicht als technisch herausfordernd wahrgenommen, obwohl er wohl von 90 km/h habe runterbremsen müssen. Silvan Dillier (32) erklärte: «Ich wusste, dass die Kurve tricky sein kann, wenn man schnell kommt und es einen nach aussen trägt.» Dennoch habe er die Passage «grundsätzlich nicht als gefährlich» erlebt.
«Der Belag ist gut»
Gedanken macht sich Wettstein dennoch. «Ich bin die Kurve wohl etwa 15 Minuten vor Gino abgefahren. Die Kurve ist gut einsehbar, dann tut sie etwas zu, ehe es wieder nach rechts geht. Der Belag ist gut.» Am Rand der Strasse gibts es in einer Breite von etwa einem halben Meter Teer und Kies. Und wie die Bilder mit den Markierungen der Polizei erahnen lassen, sind da wohl beide drüber gefahren. «Gino kannte die Strecke sehr gut, auch vom Training. Es ist mir ein Rätsel, wie das passieren konnte», sagt Wettstein.
Tatsächlich war La Punt GR zum neunten Mal Ziel einer Etappe der Tour de Suisse – Probleme gab es an dieser Stelle nie. Die Diskussion, ob und wie solche Unfälle künftig verhindert werden können, wird noch nicht wirklich geführt. Das liegt einerseits an den Aussagen der Fahrer, andererseits aber auch an der immensen Trauer, die den Radsport noch immer einhüllt.
Abfahrten künftig kategorisieren?
Im Training leben die Rad-Profis wegen des Verkehrs deutlich gefährlicher als in den Rennen. Es gibt da viel mehr Todesfälle. Benji Naesen ist ein belgischer Velo-Journalist und Podcaster. Er war einer der wenigen, die einen konkreten Vorschlag machten. Man solle künftig die Abfahrten – ähnlich wie die Anstiege – klassifizieren. Also beispielsweise die «Hors categorie», die höchste Kategorie, für die besonders schwierigen Strecken. Das würde die Fahrer möglicherweise vorsichtiger werden lassen.
Erinnerungen an Solers Sturz 2011
In über drei Jahrzehnten hat Wettstein bei der Tour de Suisse schon Schlimmes miterleben müssen. Der furchtbare Sturz von Juan Mauricio Soler (40) bei der Tour 2011 beschäftigte ihn ähnlich stark wie jener Mäders. Der Kolumbianer flog in Sirnach TG kopfvoran in einen Gartenzaun mit Eisenstangen.
«Ich denke immer wieder daran. Damals ging der Radstreifen aufs Trottoir über – heute spraye ich solche Stellen mit Kalkspray ein. Ob es Soler damals etwas gebracht hätte, weiss ich nicht, er fuhr ja im Feld.» Der Fahrer hatte sich einen Schädelbruch zugezogen, lag im Koma, war vier Monate hospitalisiert, kämpfte zuerst mit dem Leben und sich dann zurück auf die Beine. Ein Rennen fuhr er danach nie mehr.
Trotz allem: Wettstein konzentriert sich auf seinen Job, Emotionen lässt er nur in der Freizeit zu. Für ihn war Mäders Familie nach dessen tragischem Tod entscheidend. «Hätte sie gewollt, dass wir die Tour abbrechen, hätten wir das sofort getan.»