Mitten am Dienstagnachmittag ertönt im Zentrum von Glasgow auf dem George Square die Schweizer Nationalhymne. Soeben ist unser Mixed-Team an der Rad-WM zu Gold im Zeitfahren gefahren. Mit übergestreiften Regenbogentrikots tritt die Nati um die Lokomotiven Stefan Küng (29), Stefan Bissegger (24) und Marlen Reusser (31) vor dem versammelten Publikum vom Podest. Das Zeitfahr-Dreamteam hat wieder zugeschlagen – trotz Sturz von Reusser auf der Frauen-Strecke.
«Das war dumm», sagt Reusser, die zu früh in eine Kurve ging und zu Fall kam. Die Teamkolleginnen Elise Chabbey (30) und Nicole Koller (26) mussten danach warten, bis ihr Zugpferd wieder zurück war. «Danke Jungs, dass ihr immer so eine starke Zeit vorlegt», sagt Reusser. Küng, Bissegger und Mauro Schmid (23) fuhren 18 Sekunden auf die Verfolger heraus. Die Frauen retteten 7 Sekunden auf Frankreich ins Ziel, Bronze ging an Deutschland.
Schweiz triumphierte bereits in Australien
Vor einem Jahr in Australien fuhr das sechsköpfige Team genau in der gleichen Besetzung auch schon zu Gold in der noch jungen WM-Disziplin, bei der zuerst drei Männer starten und dann an die drei Frauen übergeben, sobald zwei der drei Athleten im Ziel sind. Obwohl der Wettbewerb im Vergleich zu den Einzelrennen einen eher kleinen Stellenwert hat und bei anderen Nationen wie Holland die ganz grossen Stars gar nicht antreten, demonstriert die Schweiz einmal mehr ihre Stärke im Kampf gegen die Uhr.
Um das Mixed-Teamzeitfahren zu gewinnen, braucht es nicht nur einzelne Zugpferde, sondern eine Breite an guten Zeitfahrern sowohl bei den Frauen als auch Männern. Und bereits vor dieser Generation um Küng, Bissegger und Reusser gab es viele Erfolge im Zeitfahren, allen voran durch Fabian Cancellara. Warum ist die Schweiz in dieser Disziplin so stark?
Die Windkanal-Tests in Silverstone
Erklärungen dafür liefert Beat Müller, «Head of Performance» beim Schweizer Radsport-Verband und damit für sportwissenschaftliche Fragen zuständig. «Es geht um die Faszination, sich mit Aerodynamik auseinanderzusetzen», erklärt er. «Viele Publikationen zu diesem Thema stammen von Engländern oder Dänen, aber die Schweizer haben den Biss und die Musse, sich mit Aerodynamik auseinanderzusetzen.»
Konkret bedeutet das, dass Sportwissenschaftsgelder oft auch in Windkanal-Stunden statt neues Material fliessen. «Wir waren schon im Polytechnikum in Mailand, in Immenstaad am Bodensee und in Silverstone», erzählt Müller. Silverstone, das Formel-1-Mekka? Richtig. Das «Sports Engineering Hub» mit dem Windkanal für die Radfahrer liegt direkt neben der Rennstrecke. Da ist der Wissenstransfer aus der Formel 1 nicht weit.
Bereits bei Junioren ist Aerodynamik ein Thema
Eine Stunde im Windkanal kostet dort gemäss Website des Anbieters umgerechnet rund 300 Franken. In der Schweiz sei die Miete häufig zu teuer, sagt Müller. Bei den verschiedenen Anbietern im Ausland feilen die Elite-Fahrer an verschiedensten Details ihrer Position und simulieren zum Beispiel auch Seitenwinde. Der Schweizer Rad-Verband setzt voll auf die Aerodynamik: Bereits ab der U17-Stufe im Nationalkader ist sie Teil des Theorieunterrichts.
Neben der Faszination für die Aerodynamik, die bei Zeitfahr-Spezialisten wie Küng vorhanden ist, profitieren die Fahrer auch von einer parallelen Ausbildung auf der Bahn. An diesem Ausbildungsweg will der Verband festhalten, auch um zum Beispiel Sprinter heranzutrainieren – ein Bereich, in dem die Schweiz im Vergleich zum Zeitfahren traditionell nicht so stark unterwegs ist.
Jetzt gilt der Fokus der Rad-Schweiz allerdings voll der aktuellen Woche. Am Donnerstag steigt das Einzelzeitfahren der Frauen mit Marlen Reusser und Elena Hartmann, am Freitag sind Stefan Küng und Stefan Bissegger am Zug. Das Zeitfahr-Gold in der Mixed-Staffel soll erst der Anfang des Schweizer Zeitfahr-Erfolgs an dieser Rad-WM sein.