Schaut man sich Nikita Ducarroz’ (26) Leben in den sozialen Medien an, könnte ein Hauch von Neid aufkommen. Die zweifache BMX-Vize-Weltmeisterin im Freestyle macht Sightseeing am Weltcup in Saudi-Arabien oder surft in Costa Rica. Wenige Posts weiter unten strahlt sie mit einer olympischen Bronzemedaille um den Hals in Tokio in die Kamera. Alles wirkt cool, lässig, entspannt. Doch im Leben der US-amerikanisch-schweizerischen Doppelbürgerin gibt es auch dunkle Seiten. Und die lernt sie schon sehr früh kennen.
«Es begann, als ich etwa fünf Jahre alt war», erzählt Nikita Ducarroz bei einem Treffen in Aigle (Vd), wo sie sich im Trainingszentrum auf die nächsten Wettkämpfe vorbereitet. «Ich weinte immer, wenn mich meine Eltern zur Schule brachten. Damals dachten aber alle, dass ich schlicht keine Lust auf Schule hatte. Doch je älter ich wurde, umso deutlicher zeigte sich: Etwas stimmt hier nicht.» Ducarroz entwickelte eine Angststörung. Traute sich als Teenagerin kaum mehr aus dem Haus, aus Angst vor der Angst. Besonders schlimm war es, wenn die in den USA wohnhafte Familie Ducarroz die Grosseltern in der Westschweiz besuchte. «Wenn ich reisen musste, wurde mir übel, mein ganzer Körper zitterte.»
Lebensretter BMX
Die junge Nikita probiert verschiedene Therapien aus, um ihre Angst in den Griff zu kriegen. Doch was wirklich hilft, ist der Sport. Schnell entwickelt die Schweiz-Amerikanerin eine grosse Leidenschaft für das kleine Velo. «Diese Leidenschaft hat mir geholfen, mein Gehirn auszutricksen. Ich hatte solchen Spass auf dem BMX, dass ich mich wieder vor die Tür getraut habe. Um Tricks zu üben, besser und besser zu werden.»
In der Schule hält sie einen Vortrag mit dem Titel «Wie BMX mein Leben verändert hat» und erzählt ganz offen von ihren Angstzuständen. Das Video vom Vortrag lädt sie auf Facebook hoch und kriegt postwendend eine Flut an positiven Rückmeldungen. «Plötzlich waren da all diese Leute, die ganz Ähnliches erlebt hatten und ihre Geschichte mit mir teilen wollten. Es war, als ob ich eine Tür aufgestossen hätte.»
Kein Einzelfall
Das Thema Mentale Gesundheit wird zu Ducarroz’ ständigem Begleiter. In den sozialen Medien versucht sie, ein bisschen mehr Realität zu zeigen. Schreibt auch über die etwas weniger schönen Dinge in ihrer Karriere und sagt offen, dass auch depressive Phasen zu ihrem Leben gehören. «Es ist nicht so, als dass ich jetzt, wo ich eine professionelle BMX-Athletin bin, einfach geheilt bin», erzählt sie. Für den Sport reist sie quer über den Globus. Es komme regelmässig vor, dass sie während einer Reise Panik aufsteigen spürt. «Mittlerweile habe ich die Angst aber soweit unter Kontrolle, dass ich keinen kompletten Zusammenbruch erleide.» Es helfe ihr, an den bevorstehenden Wettkampf zu denken.
Es gibt es rund um die Uhr Anlaufstellen. Das sind die Wichtigsten:
Verein Postpartale Depression Schweiz: www.postpartale-depression.ch
Dachverband Schweizer Männer- & Väterorganisationen: www.maenner.ch/mencare/landkarte/
Elternnotruf: 0848 35 45 55 www.elternnotruf.ch
Die Dargebotene Hand: Telefon 143 oder www.143.ch.
Kriseninterventionszentren: Fast jeder Kanton verfügt Kriseninterventionszentren, die rund um die Uhr niederschwellig Hilfe anbieten.
Es gibt es rund um die Uhr Anlaufstellen. Das sind die Wichtigsten:
Verein Postpartale Depression Schweiz: www.postpartale-depression.ch
Dachverband Schweizer Männer- & Väterorganisationen: www.maenner.ch/mencare/landkarte/
Elternnotruf: 0848 35 45 55 www.elternnotruf.ch
Die Dargebotene Hand: Telefon 143 oder www.143.ch.
Kriseninterventionszentren: Fast jeder Kanton verfügt Kriseninterventionszentren, die rund um die Uhr niederschwellig Hilfe anbieten.
So offen wie die BMX-Athletin sprechen in der Schweiz nur sehr wenige. Turnerin Ariella Käslin oder Fussballer Ciriaco Sforza etwa taten es beide erst nach dem Karriereende. Dabei ist Ducarroz mit ihren psychischen Problemen keineswegs alleine. Eine von sechs Personen im Schweizer Leistungssport zeigt mittlere bis schwere Symptome einer Depression. Gar jeder fünfte Athlet in der Schweiz hat mit Schlaf- oder Essstörungen zu kämpfen. Zu diesem erschreckenden Resultat gelangte vor wenigen Monaten eine Studie der Eidgenössischen Hochschule für Sport Magglingen EHSM.
«Niemand will jammern»
Warum also spricht kaum ein Athlet über die mentale Herausforderung, welche das Leben als Spitzensportler mit sich bringt? Nikita Ducarroz hat ihre Vermutungen. Erstens geht es ums Stigma. «Auch ich mache mir immer Gedanken darüber, dass meine Aussagen zum Thema mentale Gesundheit falsch verstanden werden könnten. Wenn ein erfolgreicher und beliebter Spitzensportler sagt, er habe es nicht einfach im Leben, obwohl es ihm auf den ersten Blick wirklich an gar nichts fehlt, kann das ganz schnell als Jammern verstanden werden.» Wer jammert, wirkt schwach. Schwäche will kaum einer zeigen. Viele Athleten leiden stumm, aus Angst vor den Reaktionen.
Mehr zu Depressionen
Zweitens geht es um das Verständnis in der Bevölkerung. Ducarroz nutzt hierfür einen simplen Vergleich: «Wenn sich jemand noch nie ein Bein gebrochen hat, kann er sich trotzdem vorstellen, wie weh das tun muss.» Wie aber fühlt sich eine Depression, eine Angststörung an? Das verstehe man erst, wenn man es selbst durchgemacht hat.
Der BMX-Profi hat bisher nur Zuspruch für ihren offenen Umgang mit dem Thema erhalten. Doch Ducarroz beobachtet, dass die gehässigen Kommentare sich häufen, je populärer und erfolgreicher die Athleten sind. Sie nennt die US-Turnerin Simone Biles als Beispiel, welche die Olympischen Spiele in Tokio wegen mentalen Problemen überraschend vorzeitig beendete.
Projekt «Mindtricks»
Um auf das Thema Mentale Gesundheit im Leistungssport aufmerksam zu machen, hat Nikita Ducarroz gemeinsam mit einem Freund das Social Media Projekt «Mindtricks» ins Leben gerufen. Auf dem Instagram-Kanal teilen Athleten ihre ganz persönlichen Geschichten zum Thema Mental Health. «Die Leute sollen sehen, dass auch diese coolen Athleten, vielleicht sogar sportliche Vorbilder, Probleme mit ihrer Psyche haben. Und dass es wirklich in Ordnung ist, darüber zu sprechen.»
Denn eines betont die BMX-Freestylerin immer wieder. Darüber reden hilft. Gerade für professionelle Athleten wünscht sich Ducarroz eine bessere Betreuung in Sachen mentaler Gesundheit. Der Besuch beim Teampsychologen sollte ein fester Termin im Kalender jeder Athletin werden. Und keine Notanlaufstelle, wenn es schon fast zu spät ist. Denn: «Als Sportlerin wirst du zu Höchstleistungen angetrieben. Du machst alles, damit dein Körper fit und gesund bleibt. Es wäre sicher viel wert, etwas Zeit in die Gesundheit der Psyche zu investieren.»