Es war angerichtet. Montagabend, beste Sendezeit, live im frei empfangbaren US-Fernsehen beim Sportsender ESPN sollen sich zwei der jungen Stars duellieren. Josh Allen (26) und Joe Burrow (26), zwei Quarterbacks der neuen Generation, treffen zum ersten Mal aufeinander. Sie sollen der Sportwelt zeigen, welch exquisite Talente in den nächsten Jahren für die Schlagzeilen in der NFL sorgen werden. Ein sportliches Spektakel und ein TV-Quotengarant.
Doch einen Sieger hat die Partie zwischen den Cincinnati Bengals und den Buffalo Bills bis heute nicht gefunden. Und es wird auch keinen mehr geben.
Noch im ersten Viertel passiert das Unglück: Buffalos Verteidiger Damar Hamlin (24) versucht seinen Gegenspieler Tee Higgins (23) zu tackeln. Higgins, in vollem Lauf, stösst Hamlin die Schulter in die Brust, bevor er zu Boden geht. Ein Zweikampf, wie es ihn in der NFL jedes Wochenende zu Dutzenden gibt. Doch diesmal passiert etwas Furchtbares: Hamlin steht kurz auf, sinkt dann wieder zu Boden. Herzstillstand. Noch auf dem Feld muss er wiederbelebt werden, tagelang kämpft er im Spital um sein Leben. Das Spiel wird abgebrochen. Am späten Donnerstagabend wird bekannt, dass es nicht mehr fortgesetzt werden wird.
Die Liga boomt – aber was ist der Preis dafür?
«Beängstigend», wird Burrow später die Situation mit Hamlin nennen. «Es war sofort klar, dass es keine normale Football-Verletzung ist.» Die Frage, die weder Burrow noch seine Kollegen beantworten können: Was passiert nun mit der NFL?
Dazu muss man wissen: Die National Football League boomt. 18 Milliarden US-Dollar hat die Glamour-Liga laut «Forbes» in der vergangenen Saison umgesetzt. Zum Vergleich: Die Premier League als finanzstärkste europäische Sportliga kommt dagegen auf rund 6 Milliarden. Ausserhalb der USA wächst Football rasant, diese Saison wurden Saisonspiele in Mexiko, Grossbritannien und Deutschland ausgetragen, mit überwältigendem Erfolg. Bei der Deutschland-Premiere in München hätte die Liga die Allianz-Arena 45 Mal füllen können, über 3 Millionen Ticket-Anfragen gingen bei der NFL ein. Kurzum: Es läuft. Eigentlich müssten im Büro von NFL-Commissioner Roger Goodell also die Korken knallen.
Football sieht nicht nur brutal aus – Football ist brutal
Und trotzdem haben die NFL-Chefs im Moment keinen Grund anzustossen. Zu wild das Bild, das die Liga in den letzten Wochen abgegeben hat. Gleich eine Reihe von üblen Verletzungen bestätigt, was die Brüder Steve und Mark Fainaru in ihrem Buch «League of Denial» schon 2013 beschrieben haben: Football ist ein Spektakel, das manchmal nicht nur brutal aussieht. Football ist manchmal brutal.
Noch brutaler ist aber, wie die Liga mit diesem Fakt umgeht: Sie ignoriert ihn, so gut es geht. Selbst als für medizinische Experten längst sonnenklar ist, dass Football-Spieler durch die dauernden Kollisionen auf dem Spielfeld ein erhöhtes Risiko haben, an CTE zu erkranken, einer degenerativen Erkrankung des Gehirns, die später im Leben zu Gewaltausbrüchen, Depressionen, Suchtproblemen oder sogar Suizid führen kann. Das Beispiel, das die Fainaru-Brüder in ihrem Buch als Vergleich wählen: Die Tabakindustrie, die während Jahrzehnten abstritt, dass Rauchen schädlich ist.
«Kein Arzt, der bei Sinnen ist, wird ihm diese Saison die Freigabe erteilen»
Das krasseste Beispiel ist das von Miami-Spieler Tua Tagovailoa (24). Auch er ein Quarterback-Talent, einst hochgelobt, später stagnierend, in dieser Saison unter dem neuen Trainer Mike McDaniel endlich im Ansatz auf dem Niveau, das man sich von ihm erhofft hatte. Doch nach der mittlerweile dritten Gehirnerschütterung innert weniger Monate droht ihm nun das Saisonende. Experte Chris Nowinski von der Concussion Legacy Foundation schreibt auf Twitter: «Kein Arzt, der bei Sinnen ist, wird ihm in dieser Saison die Freigabe für ein Spiel erteilen.» Eine Liga macht ihre Stars platt.
Das Paradoxe: Früher hätte Tagovailoa am Wochenende einfach wieder gespielt. Heute hat die NFL sogenannte Concussion-Spotter in den Stadien, unabhängige Mediziner, die das Spiel beobachten und Spieler, bei denen der Verdacht auf eine Hirnverletzung besteht, aus dem Spiel nehmen und untersuchen lassen. Die Tagovailoa-Verletzung hatten sie übersehen. Es war Miami-Trainer McDaniel, dem im Videostudium im Nachgang auffiel, dass mit seinem Passer etwas nicht stimmte und diesen zum Arzt schickte.
Ein TV-Mann bringt das Gefühl auf den Punkt
Das Beispiel von Tagovailoa zeigt, wie die Dinge in der NFL stehen: Die Akteure sind sich der Probleme mittlerweile bewusst. Viele von ihnen fühlen sich aber alleingelassen. Garrett Bush, ein Sport-Talker im lokalen TV in Cleveland, brachte vergangene Woche in einer Tirade das Gefühl auf den Punkt, das viele Profis und Beobachter derzeit haben: «Die NFL schert sich einen Deut um ihre Spieler.»
Viele Verträge sind von einer Woche auf die andere kündbar, die Altersvorsorge und Versicherungsleistungen sind im Vergleich zu den Liga-Milliardenprofiten ein Hohn. «Ihr wollt Applaus dafür, dass beim Unfall von Damar Hamlin Mediziner und ein Defibrillator im Stadion waren?», so Bush an die Adresse der Liga-Chefs. «Das war das Mindeste, das absolute Minimum! Es ist Zeit, dass ihr das Richtige tut. Diese Männer opfern ihre Gesundheit für euch! Und ihr zahlt ihnen kaum Renten, kaum Versicherungsgelder. Weil es euch etwas kosten würde. Es geht nur ums Geld!»
Von Damar Hamlin gibt es seit Freitag gute Neuigkeiten. Ein Glück. Es könnte trotzdem noch ein heisser Winter werden in der NFL.