In der Silvesternacht bot sich in Berlin ein Bild, das man so schnell nicht wieder vergisst. Hunderte junger Leute waren zum Neujahrswechsel auf Krawall aus und attackierten Polizisten und Rettungskräfte mit Böllern und Raketen. Mehrere Einsatzkräfte wurden bei den Gewaltexzessen, für die vor allem junge Männer mit Migrationshintergrund verantwortlich waren, verletzt.
Solche wüsten Szenen sind in der Schweiz undenkbar. Trotzdem hätte es auch hierzulande dazu kommen können, wenn wir die Integrationsarbeit hätten schleifen lassen. Ein Beispiel ist das Quartier Längi in der Gemeinde Pratteln BL. Früher galt das Quartier als Brennpunkt und wurde aufgrund des hohen Ausländeranteils sogar als «Ghetto von Pratteln» bezeichnet.
«Damals bildeten sich unter den Jugendlichen Gangs, und es kam zu mehr Gewalt als in anderen Quartieren», sagt Andrea Sulzer (51), Abteilungsleiterin für Bildung, Freizeit und Kultur der Gemeinde Pratteln, zu Blick. Der soziale Frieden sei gefährdet gewesen. Auch illegale Abfallentsorgung und Littering hätten den Behörden des damaligen Problemquartiers das Leben schwer gemacht. Der Schweizer Soziologe Michal Arend sprach in seinem Integrationsporträt 2007 gar von «beträchtlichen Integrationsproblemen», die offenbar nicht als solche anerkannt und aktiv angegangen worden seien. Bis 2008. Dann hat sich die Gemeinde Pratteln – und insbesondere das Quartier Längi – für das Pilotprojekt «projet urbain» beworben und wurde zur Teilnahme zugelassen.
1,5 Millionen für Quartierarbeit
Über acht Jahre hinweg wurden rund 1,5 Millionen Franken in die Quartierarbeit investiert. «Unter anderem mit der Gründung des Quartiertreffs konnten wir Orte für Aktivitäten und Begegnung schaffen, um das Zusammenleben verschiedener Kulturen zu verbessern», sagt Benjamin van Vulpen (36), Fachverantwortlicher der Quartierarbeit, zu Blick. Laut Sulzer ist das Zusammenleben früher konfliktträchtig gewesen, heute funktioniere es aber gut. «Es leben hier rund 100 unterschiedliche Nationalitäten, und die Längi hat einen Ausländeranteil von circa 65 Prozent», so van Vulpen.
Zudem konnte dank der Quartierentwicklung auch das Image des Quartiers verbessert werden: «Längi fällt nicht mehr negativ auf und wird auch nicht mehr als Ghetto bezeichnet. Das ist auch der guten Zusammenarbeit mit der Schule und den Angeboten von Privaten in der Längi zu verdanken», erklärt Sulzer. Es habe zwar viele Ausländer, aber das Miteinander funktioniere gut, bestätigt eine Anwohnerin. «Es sind alle friedlich hier», findet auch Johann von Siebenthal (88), der bereits seit 23 Jahren im Längi-Quartier wohnt.
«Schweiz hat grössten Integrationserfolg in Europa»
Auch in der Gemeinde Suhr AG hat man 2016 aufgrund des hohen Migrationsanteils und der hohen Sozialhilfequote ein Projekt zur Quartierentwicklung gestartet – mit Erfolg. «Seitdem wir die Menschen mit ins Boot geholt haben und sie dank Aktivitäten im Quartier anpacken dürfen, funktioniert das Zusammenleben besser», sagt Anna Greub (38), Leiterin Quartierentwicklung Suhr, zu Blick.
Dennoch sei das Ganze kein Selbstläufer, und man müsse stets dranbleiben. «In der Gemeinde gibt es immer noch gewisse Herausforderungen. Das ist aber niemals vergleichbar mit der Situation in den Banlieues in Frankreich oder in anderen Städten in Deutschland.»
Doch wie kommt es, dass das Ghetto-Problem hierzulande kleiner ist als in Frankreich, Deutschland oder Schweden? «In der Schweiz haben wir den grössten Integrationserfolg in Europa», sagt der Basler Migrationsexperte Thomas Kessler (62) zu Blick. Zudem würden solche Krawalle häufig in grösseren Städten ausbrechen. «Die Schweizer Städte sind dafür zu klein.»
Migrationsprobleme werden nicht beim Namen genannt
Dank der Quartierentwicklung und anderen Integrationsmassnahmen würden in der Schweiz viele Probleme bereits im Ansatz angegangen. Das beste Beispiel sei das Berufsbildungssystem. «Die Berufslehre ist das beste Integrationssystem, das es gibt», so Kessler. Zudem tragen auch die Kleinräumigkeit, die guten Perspektiven und die Durchlässigkeit des Bildungssystems dazu bei, dass Integration in der Schweiz besser klappt als in anderen Ländern.
Im Gegensatz zu anderen Nationen seien Migrationsfragen in der Schweiz kein Tabuthema. «Andernorts hat man Angst vor der Auseinandersetzung mit dem Thema, bei uns dagegen werden alle Fragen auf den Tisch gelegt», sagt Kessler. Insbesondere Deutschland und Schweden hätten Hemmungen, Probleme mit Migranten beim Namen zu nennen.
Im Fall von Deutschland liege das ganz klar an der Vergangenheit des Landes im 20. Jahrhundert. «Die deutsche Geschichte prägt das Volk und deren Politik bis heute. Man will nicht fremdenfeindlich sein und ist in Bezug auf Migranten vorsichtig im Einfordern von Leistungen.» Dadurch hätten sich ganze Clans gebildet, die nie zur Integration angehalten wurden, so Kessler. Schweden dagegen sehe sich selber an der zivilisatorischen Weltspitze, was es schwierig mache, sich Probleme einzugestehen.
Es zeigt sich: Als stark politisiertes Land hat die Schweiz gegenüber anderen einen grossen Vorteil. Hierzulande wird laufend über Migrationsfragen debattiert – kleinreden macht die Probleme nur grösser.