Nur wenige Themen der Gegenwart bergen ähnlich viel Zündstoff wie die Migration. Wie viele Flüchtlinge können wir aufnehmen? Wer bekommt Asyl? Wie viel Zuwanderung verträgt ein Land? Die Debatten werden hochemotional geführt – auch in der Schweiz. Vergessen geht dabei, dass die Migration dieses Land prägt, und zwar seit es existiert.
Noch vor Tell kamen skandinavische Migranten
Bereits die Mythen über die Anfänge der Eidgenossenschaft sind mit Migrationsgeschichten gespickt. Im «Weissen Buch von Sarnen» (um 1470), der ersten zusammenhängenden Darstellung der eidgenössischen Befreiungsgeschichte, setzt die Chronik nicht mit dem Widerstand gegen die bösen adeligen Vögte ein, sondern mit der Schilderung von Zuwanderung. Zuerst seien Siedler nach Uri gekommen, dann hätten Römer Unterwalden bevölkert, und schliesslich seien Leute aus Schweden nach Schwyz gelangt, «da ihrer daheim zu viele waren», heisst es. Vor dem Freiheitskampf der Waldstätte, vor Wilhelm Tell und vor dem Schwur auf dem Rütli, berichtet die Chronik von Einwanderern.
In den 1480er-Jahren fügte der Geistliche Heinrich von Gundelfingen der Sage weitere Einzelheiten hinzu. Die Erinnerung an die aus Skandinavien eingewanderten Vorfahren ging bald in religiöse Praktiken über. So forderten Schwyzer Sittenmandate (Anm.: Vorschriften fürs tägliche Leben) Landleute auf, im Andenken an die Vorfahren aus Schweden jeweils beim Mittag- und Betläuten fünf Vaterunser und fünf Ave Maria sowie das apostolische Glaubensbekenntnis zu beten.
Söldnerland Schweiz: bis zu 30 Prozent in fremden Diensten
Migration prägte im Mittelalter nicht nur religiöse Praktiken, sondern bestimmte auch den Alltag der Menschen. Denn bis zum Ende der Alten Eidgenossenschaft 1798 finden sich alle Formen der Wanderung: Arbeits- und Fluchtmigration, saisonale und dauerhafte Bewegung, militärische und Expertenwanderung.
Söldnertum ist bis zur Französischen Revolution ein Massenphänomen. Auf dem Höhepunkt im 17. Jahrhundert dürften je nach Region und Generation zwischen 10 und 30 Prozent der erwachsenen Schweizer Männer als Reisläufer ins Ausland migriert sein. Für Gesellen zählte die Wanderschaft, die manche für immer in ferne Länder führte, zur Ausbildungszeit.
Gewerbetreibende, Hausierer, Kaufleute, Landarbeiter, Sennen und viele andere machten die Mobilität zur Grundlage jener Lebensweise, die ihnen das Fortkommen sicherte und sie für Jahrhunderte in einen generationenübergreifenden Zyklus von Auswanderung und Rückwanderung einband.
Besonders ausgeprägt war die saisonale Arbeitsmigration in der Frühen Neuzeit im Tessin und in weiten Teilen Graubündens. Auch Gelehrte und Hauslehrer suchten ein Auskommen häufig ausserhalb der Eidgenossenschaft, an ausländischen Universitäten und Akademien, an Höfen von Königen und Zaren, bei Adeligen oder wohlhabenden Bürgern.
Helvetier: die unfreiwilligen Schweizer
Die Menschen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit waren weitaus mobiler, als wir uns dies heute gemeinhin vorstellen. Dessen bewusst waren sich auch die Gründerväter der modernen Schweiz: Als sie um 1848 «Confoederatio Helvetica» zum offiziellen Namen des neuen Staates kürten, wollten sie vermeiden, dass eine der Landessprachen bevorzugt wurde. Sie erinnerten an die Helvetier, die seit dem 16. Jahrhundert als «Urvolk» der Schweiz galten.
Ironischerweise war das einer jener keltischen Stämme, die sich nur kurz auf dem Gebiet der heutigen Schweiz aufhielten. Die Helvetier wanderten möglicherweise erst kurz vor 100 v. Chr. aus dem süddeutschen Raum ins schweizerische Mittelland ein. Bereits 58 v. Chr. zerstörten sie ihre Siedlungen, um sich südwestlich in Gallien niederzulassen. Nachdem sie bei Bibracte von Caesars Truppen vernichtend geschlagen worden waren, kehrten sie – unfreiwillig – zurück und errichteten ihre Siedlungen neu.
Die Helvetier sind also alles andere als das schweizerische «Urvolk», sehr wohl aber ein gutes Beispiel dafür, wie nacheinander Kelten, Römer und Germanen in das Gebiet der heutigen Schweiz einwanderten. Ihre Kulturen prägten, jede auf ihre eigene Weise, die Verhältnisse. Dabei lösten sich die Kulturen nicht einfach ab, sondern durchmischten sich auf vielfältige Weise.
Maggi, Nestlé und Boveri: Ausländer bauen Schweiz
Im 19. Jahrhundert waren mehr Menschen unterwegs als je zuvor. Auch für die Schweiz war der Abbau von Schranken zentral. Mit der rechtlichen Gleichstellung der christlichen Schweizer Männer konnten sich diese im Bundesstaat von 1848 erstmals frei niederlassen, was zu einem rasanten Wachstum der Städte führte.
Zugleich machten die neuen, freiheitlichen Verhältnisse das Land auch vermehrt für Ausländer attraktiv. So fanden deutsche Liberale, italienische «Carbonari» oder polnische Revolutionäre in die Schweiz: politische Flüchtlinge. Zu ihnen gehörte Pellegrino Rossi, der 1816 vor den Österreichern aus Bologna fliehen musste und in Genf als erster Katholik an der Académie de Genève römisches Recht und Staatsrecht lehrte und seine politische Karriere startete. Viele weitere folgten. Der Deutsche Heinrich Fick, in seiner Heimat zur Persona non grata erklärt, half mit, das schweizerische Obligationenrecht zu schaffen.
Gottfried Semper, Teilnehmer am Dresdner Aufstand von 1849, war 1855 einer der ersten Professoren am Polytechnikum, das er kurz zuvor für die Schweiz entworfen hatte. Führende Köpfe der schweizerischen Arbeiterbewegung wie Herman Greulich und Nikolai Wassiljew waren von den freiheitlichen Verhältnissen in der Schweiz ebenso angezogen wie Gesellen und Unternehmer. Heinrich Nestlé aus Frankfurt, Julius Maggi, Walter Boveri und der aus einer britischen Ingenieursfamilie stammende Charles Eugen Brown verwirklichten wie viele andere mehr ihre Ideen in der Schweiz.
Schweizer schieben Schweizer ab
Gleichzeitig wanderten zwischen 1815 und dem 1. Weltkrieg fast eine halbe Million Schweizerinnen und Schweizer nach Übersee aus. Ebenso viele dürften nach Europa, wenige auch nach Afrika und Asien ausgewandert sein. Ein Grossteil baute sich in einer kolonialen Welt eine neue Existenz auf, andere kehrten mit ihrem Wissen in die Schweiz zurück.
Wieder andere lebten in erbärmlichen Verhältnissen. Daran schuld waren nicht zuletzt Kantone und Gemeinden. Den Auftakt machte der Kanton Freiburg, als er Nicolas Sébastien Gachet, den späteren Schweizer Konsul in Rio, beauftragte, Angehörige der Unterschicht nach Brasilien zu führen. Alsbald schlossen sich weitere Kantone dem Projekt an. 2006 Männer, Frauen und Kinder brachen im Herbst 1819 Richtung Rio auf. Zu ihnen gehörten auch die verarmten Brüder Michael und Wendel Rüttimann aus Sursee, die mehr oder weniger genötigt wurden, die Heimat zu verlassen.
Ungenügend vorbereitet, befand sich «Nova Friburgo» bereits nach wenigen Jahren in einem derart schlechten Zustand, dass nur philanthropische Vereine und die beteiligten Kantone ein Überleben vor Ort sichern konnten. Angezogen von der Werbung der Agenturen und dem Reiz der Exotik, zog es Tausende Schweizer Migrantinnen und Migranten nach Südamerika, um in Kolonien wie «Helvetia» oder «Alpina» zu arbeiten. Was oft nach lauschiger Siedlung klang, stellte sich zuweilen als Ort krasser Ausbeutung heraus, in dem sich Familien wie die Zubens aus Alpnach verdingten. Erst mit Jahren begann sich die Lage zu verbessern.
Im Gotthard beginnt das Jahrhundert der Italiener
Mit dem Wandel der Schweiz zum modernen Industriestaat wurde sie 1888 zugleich zum Einwanderungsland. Eine Wendemarke hierzu bildete der Bau der Gotthard-Bahn, Kernstück des Schienennetzes und erste rasche Verbindung nach Süden. Zusammen mit dem Ausbau der Städte schufen die Gotthard-Bahn und spätere Alpentransversalen die Basis für eine prosperierende Wirtschaft. Auch der Tourismus, als schnell wachsender Sektor um 1900, ist ohne die Erschliessung der Alpen nicht denkbar.
Die Arbeit an den Bauwerken liess insbesondere die Zuwanderung aus dem Süden rasch und andauernd ansteigen und läutete das «Jahrhundert der Italiener» in der Schweiz ein. Am Gotthard stellten sie zwischen 80 und 90 Prozent aller Handlanger, Maurer und Mineure.
Die Arbeitsbedingungen im und am Tunnel waren, wie später bei anderen Tunnelbauten vor 1914, unmenschlich hart. Hitze, Lärm, Staub und Nässe machten den Arbeitern zu schaffen, die Sicherheit war ungenügend, die medizinische Versorgung unzureichend, und die hygienischen Verhältnisse insbesondere im Tunnel waren katastrophal, was zahlreiche Erkrankungen mit Todesfolgen nach sich zog.
Über die Grossbaustellen gelangten italienische Arbeiter vermehrt in die Städte, wo vielerorts grosse Bauvorhaben anstanden. Andere Migranten versuchten ihr Glück als Kleinhändler und belieferten die eigenen Landsleute mit Arbeitskleidern, Merceriewaren und anderen Alltagsgegenständen. So etwa Domenico Boscardin und seine Brüder, die aus der Provinz Vicenza kommend in der Ostschweiz tätig waren. Andere verkauften Produkte aus der Heimat – Käse, Wurst, Gemüse und Südfrüchte – oder eröffneten ein kleines Ladenlokal samt Restaurationsbetrieb.
Schweiz ist Migration
Mit dem 1. Weltkrieg setzte ein neues Kapitel in der Migrationsgeschichte ein. Vermehrt versuchten die Nationalstaaten die Bewegung von Menschen wieder zu steuern und zu kontrollieren. So auch die Schweiz, die vor 100 Jahren hierfür die Eidg. Fremdenpolizei schuf.
Seither kämpfen verschiedene politische Strömungen um die Macht. Jene, die auf eine offene Migrationspolitik setzen, und jene, die restriktive Positionen vertreten. Konstant geblieben ist dabei nur eines: Migration bleibt ein elementarer Bestandteil der Schweiz.
Der Autor Patrick Kury ist Professor für Geschichte an der Universität Luzern. Er gilt als der Experte für die Geschichte der Migration in der Schweiz. Zusammen mit André Holenstein und Kristina Schulz hat er soeben im Verlag Hier und Jetzt das Buch Schweizer Migrationsgeschichte publiziert.