So nah. Und doch so fern. Wer Basel via Grenzübergang in Richtung Frankreich verlässt, landet knappe 30 Autominuten später in einer anderen Welt. Die Reise führt nach Les Coteaux in Mulhouse. Sofort stechen die kolossalen Wohnklötze ins Auge – man fühlt sich umzingelt.
Hier wohnen Menschen dicht aufeinander. In Gebäuden, die dieser Bezeichnung nicht mehr gerecht werden. In den heruntergekommenen Häusern stinkt es nach Schimmel und abgestandener Luft.
Maghrebiner, Türken und Schwarzafrikaner hausen in diesen Klötzen. Der Versuch, mit einer Gruppe herumlungernder Jugendlicher ins Gespräch zu kommen, scheitert: Sie seien am Drogenverticken. Kaufen – oder abhauen. Erst recht Journalisten, die filmen möchten.
Mehr in Plauderlaune ist ein junger Algerier (21), der in Frankreich geboren und in Les Coteaux aufgewachsen ist. Hellgrüne Jacke, Trainerhose, elektronische Fussfessel. Bis 15 Uhr müsse er zu Hause im Stadtzentrum sein. Sonst drohe Zoff. Er macht uns weis, er habe nie Drogen verkauft. Mit einem Schmunzeln auf den Lippen legt er noch einen drauf: «Hier im Quartier verkauft niemand Drogen.»
«Die Polizei kommt nicht hierher, um zu reden»
Beim Thema Polizei ist ihm nicht zum Lachen zumute. Er schimpft, dass die Polizisten im Quartier ihre Go-Pro-Kamera nicht einschalten würden. «Denn sie wissen, dass einer von uns eine Tränengas- oder Schlagstockattacke kassieren wird.» Kurz: «Die Polizei kommt nicht hierher, um zu reden.» Die Beamten seien zu siebt, acht, neunt unterwegs. «Nie zu zweit oder zu dritt. Zu gefährlich.»
Ein anderer Bewohner kritisiert weniger die Polizei als die Jugendlichen aus dem Quartier: Brayan Varmaz (20). Er arbeitet als Plattenleger in Oensingen SO und wohnt im «Türkenblock», wie er selbst sagt.
Seine Bestandsaufnahme von Les Coteaux fällt ernüchternd aus: «Hier herrschen keine guten Lebensbedingungen. Es hat viele Delinquenten, Jugendliche und junge Erwachsene aus dem Viertel. Sie besprayen die Mauern, spucken überall hin, werfen ihren Abfall hin.» Damit nicht genug: «Es gibt viele Drogendealer.» Varmaz erwähnt auch Steinattacken auf die Polizei: «Es sind eher die Kleinen, die das tun.»
Wie Varmaz wohnt auch Assia B.* (47) im «Türkenblock». Sie lässt uns ins Haus hinein. «Die Schränke sind kaputt, es gibt Probleme mit der Elektrizität in den Gängen, in den Wohnungen hat es Schimmel.» Als die Frau erzählt, befinden wir uns in einer verlassenen Wohnung. Der Boden ist zugemüllt, eine Wand mit einem Hakenkreuz verschmiert. Für B. ist klar: «Es ist ein vergessenes Quartier.»
«Um den Polizeiposten herum wird mit Drogen gehandelt»
Elise Cataldi (53), Direktorin des sozio-kulturellen Quartierzentrums AFSCO, widerspricht: «Weder Mulhouse noch Frankreich haben Les Coteaux vergessen. Es ist ein Quartier, in dem gearbeitet wird.» Etwa im Bereich der Schule und im Zusammenleben, wie sie sagt. «Wir sind hier, um zu begleiten und zu versuchen, diese Probleme zu überwinden.»
Diesem Ziel nicht förderlich ist, dass den Polizisten, die in einem Posten im Quartier stationiert sind, die Hände gebunden scheinen. AFSCO-Präsident Christian Collin (81) erklärt: «Ihre Rolle ist administrativer Art. Passiert etwas im Quartier, intervenieren sie nicht.» Beispiel: «Um den Polizeiposten herum wird mit Drogen gehandelt.» Collin weiss aber: «Die Jungen von diesem Ort zu vertreiben, löst das Problem nicht. Sie finden einen neuen Platz.»
Deshalb sieht die Mülhauser Gemeinderätin Christelle Ritz (45) nur einen Ausweg: «Die jungen Problemstifter aus Les Coteaux entfernen und in ein geschlossenes Erziehungsheim ausserhalb des Viertels stecken.» Doch die Rechnung der Politik, des Staates sehe anders aus, sagt die Frau vom Rassemblement National: «Sie lassen lieber die kleinen Drogendealer gewähren – statt in den Banlieues aufzuräumen. Denn sie haben Angst, so landesweite Revolten zu provozieren.»
Als Ursache dieser Banlieue-Probleme sieht Ritz die gescheiterte Integration: «Gewisse Leute in Frankreich mit Migrationshintergrund und meistens muslimischen Glaubens hassen Land, Politik und Polizei.»
«Es ist eine rechtsfreie Zone»
Solche Menschen gebe es auch in Les Coteaux. Daher ihr Fazit zum Quartier: «Es ist eine rechtsfreie Zone.» Auch wenn der Fussfessel-Algerier anderes berichtet, sagt Ritz klar: «Die Polizei würde hier gerne durchgreifen. Doch die Politik verbietet es.»
Jean-Marie Bockel (72), 1989 bis 2010 Bürgermeister von Mulhouse, widerspricht der Gemeinderätin: «In Mulhouse gibt es keine rechtsfreien Zonen, in die die Polizei nicht hineingeht. Ich kenne diesen Diskurs, er wird in ganz Frankreich und schon seit 30 Jahren geführt.»
Bockel kennt auch die Vergangenheit von Les Coteaux, dem Quartier, das in den 1960er-Jahren konstruiert wurde: «Zu Beginn bewohnte die Mittelklasse Les Coteaux: Handwerker, Menschen in technischen Berufen, Funktionäre.» Diese Leute hätten nach und nach das Quartier verlassen. «Sie wurden durch eine Immigrantenbevölkerung ersetzt. Es entstanden soziale Probleme und Arbeitslosigkeit.»
In seiner Zeit als Bürgermeister sei viel in das Quartier investiert worden. «Erst in der zweiten Hälfte meiner Ära wurde es besser. Die Arbeit trug Früchte. Aber klar: Auch in der Gegenwart ist in Les Coteaux nicht alles gut.»
* Name geändert