Emmanuel Macron (44) hat es geschafft. Er ist seit 20 Jahren der erste französische Präsident, der wiedergewählt wurde. Doch schon während der Wahlfeier wird klar: Für Macron wird es nicht einfach werden. Bereits am Sonntagabend kam es in mehreren französischen Städten zu gewalttätigen Ausschreitungen. Frankreich-Experte Gilbert Casasus (66), Direktor des Zentrums für Europastudien an der Uni Freiburg: «Frankreich ist ein sehr gespaltenes Land. Es ist ein Erfolg für Macron. Das ist unbestritten, aber Probleme bestehen und werden nicht im Rahmen eines Wahlsieges gelöst.»
Macron übte sich am Wahlabend in Demut. «Ich weiss, dass viele unserer Mitbürger heute für mich gestimmt haben, um die Ideen der Rechtsextremen zu verhindern, und nicht, um die meinen zu unterstützen», sagte er. «Ich weiss, dass Ihre Stimme mich für die kommenden Jahre verpflichtet.»
Böse Überraschung bei Parlamentswahl?
Bereits im Juni stehen Parlamentswahlen an. Kommt es dann zu einer bösen Überraschung für den Präsidenten? Für diesen Kampf wird Macron – anders als bei der Stichwahl um die Präsidentschaft – nicht auf die Unterstützung linker Parteien und der Konservativen setzen können. Und somit könnte er einen bedeutenden Teil seiner Macht verlieren.
Frankreich-Experte Casasus: «Diese Parlamentswahlen könnten zu einer Art Racheakt werden.» Es könnte laut Casasus sein, dass gewisse Wählerinnen und Wähler, die jetzt für Macron gestimmt haben, sagen, sie wollten nicht mehr gegen jemanden und somit zwangsmässig für Macron stimmen, sondern endlich wieder einen eigenen Kandidaten unterstützten. «Das könnte einen grossen Einfluss haben», sagt Casasus. Macron wäre dann unter Umständen gezwungen, eine sogenannte «Cohabitation» einzugehen und eine Regierung mit Politikern aus anderen Lagern zu ernennen. Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon (70) etwa, der bei den Präsidentschaftswahlen auf Platz drei landete, rechnet sich Chancen aus, mit einem Wahlsieg der Linken Premierminister zu werden.
Wirtschaft, Renten
Die französische Wirtschaft glänzte im vergangenen Jahr wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Doch unter der Oberfläche brodelt es: Die Staatsschulden wachsen stetig und angesichts des Kriegs in der Ukraine ziehen über der allgemeinen wirtschaftlichen Lage düstere Wolken auf.
Eine Rentenreform legte Macron zu Beginn der Corona-Pandemie auf Eis. Jetzt will er die Sache wieder angehen. Dass er das Rentenalter dabei von bisher 62 auf 65 erhöhen will, wird ihm mit Sicherheit Ärger mit den in Frankreich traditionell starken Gewerkschaften einbringen. Dass Macron nicht als volksnah gilt, wird ihm dabei nicht helfen. «Er hat auch irgendwie den Ruf – und das ist nicht unbedingt unberechtigt –, dass er ein Präsident der Reichen ist», sagt Casasus.
«Man hat gesehen, dass die Franzosen, die am meisten für Macron gestimmt haben, die 18- bis 24-Jährigen und die über 65-Jährigen sind.» Dazwischen war fast die Mehrheit für die rechtsgerichtete Konkurrentin Marine Le Pen (53), wie Casasus erklärt. «Das heisst, dass Macron da, wo gearbeitet wird, in einer schwierigen Lage ist.» Deshalb müsse er in Zukunft etwa auf die Kaufkraft oder die soziale Gerechtigkeit mehr eingehen als bisher.
Bildung und Gesundheitswesen
Vom französischen Staat erbrachte Leistungen wie Bildung und Gesundheitswesen sind in der Krise. Auf der Pisa-Rangliste fungiert Frankreich in Sachen Lesekompetenz und Mathematik nur noch auf den Plätzen 23 und 25.
Das Gesundheitspersonal ging bereits vor der Corona-Pandemie 2019 auf die Strasse, um sich gegen die prekären Arbeitsbedingungen und die Reduzierung von Spitalbetten zu wehren. Unterbesetzte Notfallstationen sind in den öffentlichen Spitälern an der Tagesordnung, die meisten von ihnen sind unterfinanziert. Laut einem zwischen Regierung und Gesundheitswesen verhandelten Sanierungsplan sollen nun 19 Milliarden Euro hineingepumpt werden.
Gesellschaftlicher Frieden
Gelbwesten, Corona-Proteste, Unruhen in den Banlieues. Immer wieder brachten in den vergangenen Jahren teilweise gewalttätige Kundgebungen ganz Frankreich oder Teile davon zum Stillstand. Im innenpolitischen Bereich hat Macron laut Casasus grosse Defizite. «Die Spaltung in Frankreich ist eine Realität.» In seiner zweiten Amtszeit müsse der Präsident diese mindern. Casasus: «Gelingt ihm das nicht, könnte es zu Ausschreitungen mit Hunderttausenden Leuten und grossen Problemen kommen.»
Macron sei ein guter Präsident, betont der Frankreich-Experte. «Er hat bewiesen, dass er fähig ist. Jetzt muss er die nächsten fünf Jahre nutzen, um die innere Spaltung von Frankreich zu schliessen.»