Anzahl Tests und positiver Fälle, Impfraten, Hospitalisierungen, Todesfälle. Das sind die vier grossen Krisenindikatoren, die uns täglich übermittelt werden und uns leer schlucken lassen. Ganz besonders gilt dies für die neuesten Berichte zur dramatischen Situation in Spitälern wegen bevorstehender Triagen und der Überlastung des Personals.
Drei Viertel der Bevölkerung – so neueste Studien – fühlen sich durch solche Meldungen belastet, und manche entwickeln ausgeprägte Ängste. Sich fürchten und nur zurückhaltend feiern war deshalb für viele die Devise über die Festtage. Die Mehrheit nimmt die vom Bundesrat empfohlenen Massnahmen nach wie vor ernst: Hände waschen, Maske tragen, Abstand halten, regelmässig lüften, Kontaktreduktion. Deshalb tönt es als Déjà-vu, wenn die Taskforce angesichts der Omikron-Wand zum x-ten Mal das vielleicht fürchterlichste Wort der Pandemie benutzt: «Eigenverantwortung». Es liege nun an uns Menschen, eine zu schnelle Verbreitung von Omikron rasch zu stoppen. Der Grossteil der Bevölkerung verhält sich schon lange eigenverantwortlich. Immer mehr Familien nehmen diesen Appell sogar derart ernst, dass sie ihre Kinder aufgrund der Maskenpflicht aus der Schule nehmen und daheim unterrichten. Dies ist deshalb problematisch, weil die Beweggründe nicht pädagogisch, sondern ideologisch, d.h. massnahmenkritisch, motiviert sind. Offenbar kann der wiederholte Appell an die Eigenverantwortung auch unbeabsichtigte Folgen haben, die mit Blick auf die soziale und emotionale Entwicklung der Kinder zu denken geben.
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Covid ist mehr als nur ein medizinisches Problem
Bundesrat und Kantone wollen das Beste für unser Land. Doch sie behandeln die Corona-Krise vor allem als medizinisches und logistisches Problem. Der Tunnelblick auf virologische Parameter und Modellberechnungen blendet die gesamtgesellschaftliche Problemdynamik aus, dass die Pandemie auch eine grosse sozial-emotionale Krise ist.
Sie betrifft Kinder, die aus der Schule genommen werden. Aber auch Jugendliche, die stark eingeschränkt sind, um sich Aufgaben zu stellen,
die wichtig sind für ihre Entwicklung. Dazu gehört die Ablösung vom Elternhaus, unter ihren Altersgenossen eine Position zu finden oder mit der eigenen Geschlechterrolle zu experimentieren. Seit fast zwei Jahren ist das nur noch beschränkt möglich – eine sehr lange Zeit für sie. Doch die sozial-emotionale Krise betrifft auch Alte, Familien und Singles, Kranke und Gesunde, Arme und Reiche.
Verborgene Missstände kommen zum Vorschein
Die Bekämpfung von Covid-19 bringt Begleitschäden mit sich, die wie ein Kontrastmittel die normalerweise verborgenen Aspekte des Sozialen zutage fördern. Schon seit mehr als einem Jahr berichten Fachleute von der massiven Zunahme psychischer Störungen und Erkrankungen bei allen Altersgruppen, nicht nur bei jungen Menschen. Zwar war dies schon vor der Pandemie ein grosses Thema, doch die Corona-Massnahmen haben solche Belastungen deutlich erhöht.
Ein Hauptgrund ist der erzwungene Rückzug in den privaten Raum, der auch für diejenigen Kinder eine besondere Herausforderung ist, die nun plötzlich zu Hause unterrichtet werden. Betroffen sind aber auch Studierende und Berufstätige aufgrund von Online-Vorlesungen, Homeoffice und Videokonferenzen jenseits direkter Begegnungen. Und ebenso schwierig ist die Freizeitgestaltung wegen der restriktiven Zugangsbedingungen zu Sport- und Freizeitmöglichkeiten oder die verstärkte Konzentration auf die Kernfamilie, oft in räumlicher Enge und mit zu viel körperlicher Nähe.
Die emotionale und soziale Krise ist tabu
Soziale und emotionale Einsamkeit ist das neue zweite Virus geworden, über das kaum gesprochen wird, obwohl es die Psyche vieler Menschen angreift. Es macht Omikron Konkurrenz, weil es auch mutiert, sich rasch verbreitet und alle Generationen befällt. Obwohl die bisherigen Massnahmen im internationalen Vergleich mehr als vertretbar sind, fördern auch sie soziale Isolation, Vereinzelung und Einsamkeit. Zunehmend leben wir in Blasen. Das gilt ganz besonders für Kinder, welche aus Angst der Eltern vor einer Ansteckung nicht mehr zur Schule gehen dürfen und vom sozialen Klassenverband ausgeschlossen sind. Natürlich ist mir bewusst, dass der Hinweis auf die Bedeutung sozialer Vereinzelung ein zweischneidiges Schwert ist, weil das Problem des Öfteren von Corona-Gegnern missbraucht wurde, um schnelle Massnahmenlockerungen zu fordern. Doch darum geht es nicht.
Doppelt so viele Menschen fühlen sich einsam
Die Einsamkeit ist eine kollektive Erfahrung in unserer fast berührungslos gewordenen Gesellschaft – darüber schreibt Diana Kinnert in ihrem neuen Buch. Die Sozialwissenschaften sprechen gar von einer Epidemie, weil das Einsamkeitsempfinden seit Corona gut doppelt so hoch ist wie in den Vorjahren und zu einem fast globalen Phänomen geworden ist. Hierzulande fürchten sich 49 Prozent besonders vor den eingeschränkten Freiheiten, und 38 Prozent haben Angst vor sozialer Isolation und Einsamkeit. Dabei sind unterschiedliche Bevölkerungsgruppen etwa gleich stark betroffen, Kinder und Jugendliche, Frauen und Männer sowie Menschen mit hoher oder niedriger Bildung. Einsamkeit und Vereinzelung erzeugen Stresssituationen, welche auch krank machen, Immunität und Resistenz beeinträchtigen und das Gesundheitssystem belasten können.
Wir wissen nicht, wann die Pandemie endet
Am 13. März 2020 ging die Schweiz in den Lockdown, die Pandemie wird bald zwei Jahre alt sein. Heute wissen wir, dass es keine Sicherheit darüber gibt, wie sie zu bewältigen ist. Eher hat uns Corona die vielleicht wichtigste Lektion gelehrt: Den richtigen Knopf zu drücken, um die Pandemie abzuschalten, gibt es nicht. Deshalb ist es an der Zeit – welche Strategien Bund und Kantone zukünftig auch immer wählen –, den virologischen Tunnelblick um eine alternative Perspektive zu ergänzen, welche sich auf die sozial-emotionalen Begleitschäden der Pandemie konzentriert.
Diese Perspektive heisst Resilienz, sie ist das Immunsystem der Seele. In der Wissenschaft bezeichnet der Begriff die Fähigkeit, das, was auf unsere Gesellschaft zukommt, mit Widerstandskraft abfedern zu können. Widerstandsfähig zu werden, ist auch eine Entwicklungsaufgabe, die Kindern vorenthalten wird, wenn Eltern sie allein wegen der Maskenpflicht nicht mehr zur Schule lassen.
Natürlich kann die Politik auf die grosse Bedeutung der Selbsttherapie des Individuums zum Aufbau seiner inneren Stärke verweisen und dazu aufs Neue dessen Eigenverantwortung bemühen. Doch das meine ich explizit nicht. Einsamkeit, Vereinzelung und soziale Isolation sind pandemiebedingt ein politisch höchst relevantes Thema geworden. Deshalb braucht es Massnahmen auf Bundesebene, welche auf die Entwicklung psychischer Gesundheitskompetenz setzen. Bundesrätinnen und Bundesräte können den ersten Schritt in diese Richtung tun, wenn sie sich vermehrt auch als Landesväter und Landesmütter verstehen, welche den Bürgerinnen und Bürgern Zukunftshoffnung geben und damit den Glauben an die eigene Widerstandsfähigkeit stärken.
Margrit Stamm (71) ist emeritierte Professorin für Erziehungswissenschaften an der Universität Freiburg.