Diese Frauen litten unbemerkt an ADHS
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Jahrzehnte ohne Diagnose:Diese Frauen litten unbemerkt an ADHS

Der lange Weg bis zur Gewissheit
Vier Frauen, eine Diagnose

Jahrzehnte ihres Lebens kämpften diese vier Frauen mit sich, bis bei ihnen ADHS diagnostiziert wurde. Warum das eine Erleichterung war – und wie es ihnen heute geht.
Publiziert: 29.05.2022 um 00:58 Uhr
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Aktualisiert: 30.05.2022 um 11:44 Uhr
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Melanie Goc hat ihre ADHS-Diagnose mit 35 Jahren bekommen.
Foto: Nathalie Taiana
Dana Liechti

«Mittlerweile liebe ich meine quirlige Art»

Foto: Nathalie Taiana

Melanie Goc (41), Backoffice-Mitarbeiterin im Technischen Dienst, Rümlang ZH

«Schon in meiner Schulzeit hatte ich oft das Gefühl, nicht zu genügen. Später konnte ich meine Arbeitsstellen nie lange halten. Weil ich viele Hobbys ausprobierte, hiess es, ich sei faul und würde zu schnell aufgeben. Ich konnte nie abschalten. In meinem Kopf laufen immer mehrere Sender gleichzeitig, steuern kann ich die nicht. Nur sieht das niemand. Irgendwann war mir alles zu viel, ich war nonstop müde. Depressionen und Selbstzweifel waren meine ständigen Begleiter. Erst bei einem Psychiaterwechsel fiel der Verdacht auf ADHS. Damals war ich 35. Die Diagnose war für mich ein Segen. Hätte ich sie früher bekommen, wäre mir viel Leid erspart geblieben. Heute weiss ich, dass ich nicht falsch bin, sondern ein neurologisches Problem vorliegt, das oft unterschätzt wird. Mittlerweile liebe ich meine quirlige, kreative und chaotische Art. In gewissen Situationen nehme ich Medikamente. Sie helfen mir, mich zu fokussieren. Zum ersten Mal habe ich jetzt eine längere Anstellung und bekomme Anerkennung für das, was ich leiste.»

«In der Schule war ich eher das verträumte Mädchen»

Foto: Siggi Bucher

Regula Baumann-Burkhard (54), Fachangestellte Gesundheit, Baden AG

«Ich hatte immer wieder Depressionen. Ich wollte alles perfekt machen und musste neben der Arbeit noch die Kinder, den Hund organisieren. Das brauchte enorm viel Kraft. Als ich mit 40 erneut an einer Depression erkrankte, wendete ich mich an einen Notfallpsychiater. Dieser diagnostizierte ADS bei mir. Das Ritalin war für mich wie eine Offenbarung. Ich hatte das Gefühl, ich lebe zum ersten Mal seit 30 Jahren. Alles war weniger chaotisch, ich konnte vernetzt denken, mich konzentrieren. Zum Beispiel beim Arbeiten: Vorher hatte ich eine Stunde fürs Richten der Stationsmedikamente – und dazu musste es ganz ruhig sein im Büro. Mit dem Ritalin waren es noch 20 Minuten, auch wenn daneben jemand redete. Ohne Ritalin kann ich keinen Einkaufszettel schreiben und ihn dann auch mitnehmen. Oder ein Buch lesen, ohne abgelenkt zu werden von Geräuschen oder Gedanken, was ich sonst noch alles tun könnte. Hyperaktiv war ich nie. In der Schule war ich eher das verträumte Mädchen, das aus dem Fenster geschaut hat.»

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«Jetzt weiss ich, dass ich nicht einfach faul bin»

Foto: Nathalie Taiana

Sereina Schneider (31), angehende Studentin und Verkäuferin, Ostermundigen BE

«Manchmal brauche ich vier Anläufe, um mir eine Tasse Tee zu machen. Auf dem Weg in die Küche merke ich: Da könnte ich noch was aufräumen oder hier etwas erledigen. Und dann sitze ich wieder auf dem Sofa und denke: Moment, da war doch noch etwas! Ich habe lange mit mir gekämpft. Ich habe zwar eine Lehre als Malerin abgeschlossen, aber konnte nie die gewünschte Leistung erbringen. Vor drei Jahren ist alles entglitten – ich hatte Wohnung, Finanzen und Termine nicht mehr im Griff. Nach einem Nervenzusammenbruch wurde ich auf ADHS abgeklärt. Jetzt weiss ich, dass ich nicht einfach faul bin. Im Sommer beginne ich ein Studium als Lehrerin. Das werde ich nicht ohne Ritalin durchziehen. Damit kann ich endlich Texte verstehen, Prioritäten setzen, bin ruhiger und klarer – vermutlich so, wie ein Mensch ohne ADHS. Leider werde ich oft nicht ernst genommen. Man sagt mir, ADHS sei eine Modeerscheinung oder eine Ausrede für Dinge, die mir nicht gelungen sind. Das macht mich wütend.»

«Meditation und Körperarbeit helfen mir»

Foto: Siggi Bucher

Clarissa Müsken (48), Immobilienbewirtschafterin, Pfungen ZH

«Ich gehe oft über meine Grenzen hinaus. Aber auch wenn ich innerlich ein komplettes Chaos habe, spürt man das gegen aussen nicht, weil ich das so stark kompensiere. Wenn mir dann alles doch zu viel wird und ich nicht mehr wie gewohnt funktioniere, sind alle total überrascht. Als meine Tochter mit ADHS diagnostiziert wurde, habe ich mich in das Thema eingelesen. Ich erkannte mich sofort wieder. Die Diagnose erhielt ich Mitte 30. Anfangs war ich erleichtert. Aber ich merkte schnell, dass vielerorts das Verständnis fehlt. Ich finde es auch schwierig, dass Betroffene gerne als suchtgefährdet bezeichnet werden. Viele stehen alleine da, wissen nicht, was mit ihnen los ist, und erhalten nicht die richtige Unterstützung. Sie greifen zur Selbstmedikation, um sich zu entspannen und zu regulieren. Ich war zu Beginn in Therapie und habe Medikamente ausprobiert, habe aber gemerkt, dass für mich Meditation, Yoga, ausgewogene Ernährung und Körperarbeit besser funktionieren, um im Alltag mit ADHS umzugehen.»

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