Editorial von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty über die Männerdominanz in der Wissenschaft
Frau, von Datenlücke verschluckt

Warum wird aus einer Frauenmehrheit bei den Studierenden an den Universitäten eine Männerdominanz bei den Dozierenden? In jedem Fall ist es so: Weil Männer in der Forschung in der Mehrzahl sind, sind Männer in der Forschung der Standard.
Publiziert: 29.05.2022 um 00:58 Uhr
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Aktualisiert: 21.11.2022 um 13:38 Uhr
Gieri Cavelty, SonntagsBlick-Chefredaktor
Foto: Paul Seewer
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Gieri CaveltyKolumnist SonntagsBlick

An der Universität Basel studieren 7414 Frauen und 5625 Männer. 96 Professorinnen und 284 Professoren unterrichten sie.

An der Universität Bern studieren 11'365 Frauen und 8076 Männer. 161 Professorinnen und 394 Professoren unterrichten sie.

An der Universität Genf studieren 11'778 Frauen und 7087 Männer. 174 Professorinnen und 385 Professoren unterrichten sie.

An der Universität Zürich studieren 16'473 Frauen und 11'648 Männer. 203 Professorinnen und 532 Professoren unterrichten sie.

Warum wird aus einer Frauenmehrheit im Hörsaal eine Männerdominanz vorne auf dem Katheder? Sind Männer die genialeren Forscher und besseren Lehrer? Erleichtern ihre Netzwerke das Erklimmen der Karriereleiter? Oder ist unsere Gesellschaft generell auf männliche Lebensläufe gepolt?

Ist es vielleicht so, dass aus Studentinnen bisweilen Mütter werden? Die nicht mehr rund um die Uhr um einen Lehrstuhl kämpfen können, weil sie im wahrsten Sinne des Wortes Lebenserfahrung sammeln, statt sich einseitiges Wissen anzueignen?

Um diese Fragen zu beantworten, wäre es unter anderem hilfreich zu wissen: Wie viele Kinder haben die Professorinnen, wie viele Kinder haben die Professoren an den Schweizer Universitäten? Haben die Männer womöglich eher und mehr Kinder? Falls ja, könnte man daraus beispielsweise den Schluss ziehen, dass auf weibliche Biografien im Berufungsprozess bewusst Rücksicht genommen werden muss. Oder dass es in den Kindertagesstätten mehr Personal braucht. Und dass diese Kitas die Eltern weniger kosten sollen.

Die Universität Basel schreibt auf eine entsprechende Anfrage: «Eine Angabe zu den Kindern kann nicht gemacht werden, da eine genaue Datenerhebung nicht möglich ist.»

Die Universität Bern schreibt: «Zu Ihrer Frage, wer von den Professorinnen und Professoren Kinder hat und wer nicht, können wir keine Angaben machen, da dies nicht statistisch erhoben wird.»

Die Universität Genf schreibt: «Die Universität Genf erhebt diese Daten nicht.»

Die Universität Zürich schreibt: «Diese Zahlen können wir leider nicht ermitteln.»

Was sich hier zeigt, ist eine Datenlücke wie aus dem Lehrbuch. Und ein wichtiger Grund dafür, warum es Frauen im Jahr 2022 immer noch schwerer haben als Männer. Solange etwas derart Existenzielles wie Kinder, ihre Betreuung und die Vereinbarkeit von Familie mit Beruf die verantwortlichen Stellen nicht interessiert, gibt es keine Chancengleichheit.

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Da braucht sich auch niemand darüber zu wundern, wenn Wissenschaft und Forschung und letztlich unser aller Alltag männlich geprägt sind. Weil Männer in der Forschung in der Mehrzahl sind, sind Männer in der Forschung der Standard. Eine Konsequenz daraus ist – Sie haben es erraten! –, dass eine bezahlbare und qualitativ hochstehende externe Kinderbetreuung in der Schweiz keine Priorität geniesst. Und dass Mutterschaft zum sogenannten Karrierekiller wird.

Eine andere Folge männlicher Übervertretung an den Hochschulen beschreiben meine Kolleginnen Camille Kündig und Dana Liechti im aktuellen SonntagsBlick. Ihre Recherche dreht sich um die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung. Bei Mädchen zeigt sich ADHS anders als bei Buben: Sie fallen nicht auf, sondern leiden im Stillen. Deshalb bleibt dieses neurologische Syndrom bei Mädchen und jungen Frauen überwiegend unentdeckt. Dabei kann sich ADHS auch auf ihr Leben schwerwiegend auswirken. Kurz: Frauen mit ADHS werden gegenüber den Männern benachteiligt – einfach aus dem Grund, weil die Medizin hier eine Daten- und Forschungslücke aufweist.

Und ADHS ist nur ein Beispiel. Ein weiteres ist der Herzinfarkt: Bei Männern gilt der starke, in den Arm ausstrahlende Brustschmerz als typisch, bei Frauen geht der Infarkt häufig mit unspezifischen Beschwerden wie Schlafstörungen, Übelkeit oder Bauchweh einher. Weil aber das Bewusstsein für diese Unterschiede fehlt, werden Herzinfarkte bei Frauen vielfach übersehen. Die Folge: Die Sterberate bei Herzinfarkten liegt bei Frauen höher als bei Männern.

Männerdominanz und Datenlücken haben nicht nur grossen Einfluss auf das Leben. Sie können auch ganz unmittelbar über Leben und Tod entscheiden.

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