Melanie Goc musste 35 Jahre leiden, bis sie eher durch Zufall erfahren hat, was ihr das Leben so schwer machte: die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS): «Ich kämpfte mich mein Leben lang irgendwie durch. Was andere für normal hielten, war für mich eine Herkulesaufgabe. Irgendwann hatte ich Selbstzweifel und war total erschöpft.»
Menschen mit ADHS filtern Informationen und Gedanken nicht automatisch, müssen also mit einer grösseren Datenflut zurechtkommen, was zu einem konstanten Gefühl der Überforderung führen kann. Rund fünf Prozent der Bevölkerung leiden gemäss Schätzungen an der neurologischen Störung.
Denken sie an ADHS, haben die meisten das Bild eines Schülers vor Augen, der nicht stillsitzen kann, unkonzentriert ist und überall aneckt. Dieser «Zappelphilipp», stört den Unterricht, macht seinen Eltern den Alltag zur Hölle und landet dadurch häufig bereits als Kind für eine Abklärung beim Arzt.
Bei Schülerinnen aber äussert sich die Störung anders. Susanne Walitza, Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Zürich und Mitglied der Expertengruppe ADHS beim Bundesamt für Gesundheit: «Die Mädchen haben Mühe, sich zu konzentrieren, sind verträumt, ängstlich, vergesslich oder plaudern vielleicht viel, ohne aber gross aufzufallen.» Einige leiden zudem an innerer Getriebenheit und kämpfen mit Emotionen, die ständig Achterbahn fahren. Eines ist ihnen meist gemeinsam: «Die Mädchen stören nicht den Unterricht, sondern primär sich selbst.»
Mann gilt als Prototyp
Anna Buadze, Leiterin des Spezialambulatoriums ADHS der psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, weiss, warum das Syndrom bei Mädchen und Frauen bislang unterschätzt wurde: «Für ADHS-Studien wurden über Jahrzehnte mehrheitlich Jungs aufgeboten, Ärzte orientieren sich für ihre Diagnose oftmals noch immer an ihrem Störungsbild mit grosser externer Hyperaktivität.»
Der Mann gilt als Prototyp, während Symptome, die eher bei weiblichen Betroffenen auftreten, als atypisch eingestuft werden – was dazu führt, dass ADHS bei ihnen häufig unerkannt bleibt. Zwar sind Frauen laut heutigem Forschungsstand genauso oft betroffen wie Männer, diagnostiziert werden jedoch doppelt so viele Buben.
Nur ein Bruchteil der betroffenen Mädchen erhält Unterstützung. «Auf vier Jungen, die Hilfe bekommen oder in Kliniken behandelt werden, kommt nur ein Mädchen», sagt Susanne Walitza. Während Knaben ihre Diagnose im Schnitt mit acht Jahren erhalten, müssen Mädchen ihren Alltag bis zum Alter von 17 Jahren ohne Therapie bewältigen.
Bei vielen wird ADHS sogar erst im Erwachsenenalter diagnostiziert – oder sie verstehen ihr Leben lang nicht, was mit ihnen los ist. Anna Buadze: «Wenn die Frauen bei uns im Spezialambulatiorium ankommen, haben sie meist eine lange Suche hinter sich, wurden von Behandler zu Behandler geschickt, ohne dass ein Arzt die Störung erkannte.» Zahlen des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums zeigen: ADHS-Medikamente werden deutlich häufiger von Männern bezogen.
Esstörung, Depression, Suizidversuch
Dass die Frauen unter dem Radar bleiben, hat Folgen: Untherapierte laufen oft am Limit. Alltägliches wie Einkaufen oder das Einhalten von Terminen sind für sie oft belastend. Sie sind anfällig für Stimmungsschwankungen und ungesunde Beziehungen. Oft verzetteln sie sich, leiden an chronischem Stress. Walitza: «Sie müssen sich sehr viel mehr einsetzen, um etwas zu erreichen, als andere.»
Doch gerade Frauen würden häufig dazu erzogen, den Erwartungen der Gesellschaft gerecht zu werden. Für Abläufe in der Familie zum Beispiel sei oft die Mutter zuständig – eine grosse Belastung für Mamis mit nicht erkanntem ADHS. «Mädchen und Frauen legen schon früh unbewusst Bewältigungsstrategien an den Tag, um Abweichungen und das Nichterfüllen der Erwartungen zu kompensieren», sagt Anna Buadze. Daher fokussierten manche von ihnen zwanghaft auf strenge Planung und Perfektionismus: «Um ja nichts zu verpassen, zu vergessen oder jemanden zu enttäuschen, versuchen sie ihre Defizite energisch zu kaschieren. Das artet in mit Post-its übersäten Wohnungen, ellenlangen To-do-Listen oder unzähligen Erinnerungen auf dem Telefon aus.»
Diese Anstrengung gefährdet die psychische Gesundheit. Nicht selten wird ADHS bei Frauen erst entdeckt, wenn es einfach nicht mehr geht. «Diese Frauen landen mit Erschöpfungssymptomen, Angst- und Essstörungen oder einer Depression bei uns – manchmal samt ungünstiger Selbstmedikation wie Kiffen oder literweise Kaffeetrinken», so Buadze. Undiagnostizierte ADHS-Patientinnen gelten häufig als anstrengend, chaotisch, dumm oder faul – das führe teils zu erheblichen Selbstzweifeln.
Eine unbehandelte Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung setzt Betroffene statistisch einem viermal höheren Risiko aus, ungewollt schwanger zu werden, führt zu deutlich mehr Suchterkrankungen, Gefängnisaufenthalten, Unfällen oder Suizidversuchen. «Werden sie nicht behandelt, ist ihre Sterblichkeit bis zu fünfmal höher als bei ihren Mitmenschen», so Susanne Walitza.
Bei der Aufmerksamkeitsdefizitstörung mit oder ohne Hyperaktivitätsstörung laufen Hirnbotenstoffe auf Sparflamme. Kernsymptome sind ausgeprägte Getriebenheit, Unaufmerksamkeit und Impulsivität. Betroffene sind ständig auf der Suche nach neuen Impulsen, dem nächsten Kick – haben aber Mühe, konzeptionell zu denken, zu strukturieren oder Tätigkeiten zu priorisieren.
Ohne Hilfe unterlaufen ihnen Flüchtigkeitsfehler, sie vergessen Termine oder fühlen sich überfordert. Sie sind oft ungeduldig und reizbar, gleichzeitig aber auch neugierige, visionäre Macherinnen, die alles infrage stellen und ein intensives Leben -führen. Sind sie von etwas -begeistert, können sie -einen «Hyperfokus» entwickeln und hartnäckig am Ball bleiben. Am wichtigsten im Umgang mit Betroffenen sind Verständnis, klare Kommunikation, Strukturen aber gleichzeitig auch Freiheiten.
Menschen können unterschiedlich stark betroffen sein. Das neurologische Syndrom ist oft vererbt und hat nichts mit Intelligenz oder Willen zu tun. ADHS wird mithilfe festgelegter Untersuchungsmethoden klinisch diagnostiziert. Dazu zählen -unter anderem ausführliche Patientengespräche und eine Verhaltensbeobachtung.
Bei der Aufmerksamkeitsdefizitstörung mit oder ohne Hyperaktivitätsstörung laufen Hirnbotenstoffe auf Sparflamme. Kernsymptome sind ausgeprägte Getriebenheit, Unaufmerksamkeit und Impulsivität. Betroffene sind ständig auf der Suche nach neuen Impulsen, dem nächsten Kick – haben aber Mühe, konzeptionell zu denken, zu strukturieren oder Tätigkeiten zu priorisieren.
Ohne Hilfe unterlaufen ihnen Flüchtigkeitsfehler, sie vergessen Termine oder fühlen sich überfordert. Sie sind oft ungeduldig und reizbar, gleichzeitig aber auch neugierige, visionäre Macherinnen, die alles infrage stellen und ein intensives Leben -führen. Sind sie von etwas -begeistert, können sie -einen «Hyperfokus» entwickeln und hartnäckig am Ball bleiben. Am wichtigsten im Umgang mit Betroffenen sind Verständnis, klare Kommunikation, Strukturen aber gleichzeitig auch Freiheiten.
Menschen können unterschiedlich stark betroffen sein. Das neurologische Syndrom ist oft vererbt und hat nichts mit Intelligenz oder Willen zu tun. ADHS wird mithilfe festgelegter Untersuchungsmethoden klinisch diagnostiziert. Dazu zählen -unter anderem ausführliche Patientengespräche und eine Verhaltensbeobachtung.
Ritalin ist wichtig
Immerhin erhält die Störung stetig mehr Aufmerksamkeit. Diagnosen und Behandlungen bei Mädchen und Frauen nehmen seit einigen Jahren zu. Nur: Die Wartezeiten für Abklärungen und Therapieplätze belaufen sich vielerorts auf Monate.
Hinzu kommt: Das bekannteste Medikament zur Therapie von ADHS hat einen schlechten Ruf. «Ritalin wird oft als Wunderpille für überforderte Eltern und Lehrer dargestellt, um den Störenfried ruhigzustellen. Dabei wird ausser Acht gelassen: Am meisten leiden die Betroffenen selbst», sagt Eveline Breidenstein, Ärztin und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Fachgesellschaft für ADHS.
Studien lassen darauf schliessen, dass ADHS-Patienten im Durchschnitt einen niedrigeren Ausbildungsstand und ein geringeres Einkommen als Gesunde erreichen. «Durch ADHS können sie ihr vorhandenes Potenzial nicht ausschöpfen und haben im Vergleich zu den 95 Prozent nicht betroffener Menschen einen Nachteil. Je nach Schweregrad einem Betroffenen Medikamente zu verweigern, ist, als würde man einem Verletzten keine Krücken geben.» Durch die Tabletten wird der gestörte Stoffwechsel im Gehirn wieder normalisiert.
Allerdings braucht nicht jeder ADHS-Patient Ritalin oder vergleichbare Präparate. Entscheidend für eine solche Therapie sind der Leidensdruck und negative Auswirkungen der Symptome auf das Leben der Betroffenen. «Eine sorgfältige Abklärung, Begleitung und individuelle Einstellung ist in jedem Fall zentral – auch hier mit besonderem Augenmerk auf die Eigenheiten der Frauen», sagt Ärztin Eveline Breidenstein. Studien wiesen darauf hin, dass Patientinnen mitten im Zyklus weniger negative Auswirkungen der Störung verspüren, teilweise jedoch während der Menstruation oder in der Menopause mehr Medikamente brauchen.
Schweizerische Fachgesellschaft ADHS: www.sfg-adhs.ch
Info- und Beratungsstelle für Erwachsene ADHS20+: adhs20plus.ch
Website ADHS und Frauen: adhd-women.eu/de
«ADHS-Organisation elpos Schweiz»: www.adhs-organisation.ch
Hilfe für Menschen in suizidalen Krisen und für ihr Umfeld: Beratungstelefon der Dargebotenen Hand: Telefon 143 /www.143.ch
Schweizerische Fachgesellschaft ADHS: www.sfg-adhs.ch
Info- und Beratungsstelle für Erwachsene ADHS20+: adhs20plus.ch
Website ADHS und Frauen: adhd-women.eu/de
«ADHS-Organisation elpos Schweiz»: www.adhs-organisation.ch
Hilfe für Menschen in suizidalen Krisen und für ihr Umfeld: Beratungstelefon der Dargebotenen Hand: Telefon 143 /www.143.ch
ADHSler sind mutig und innovativ
Trotz der vielen Mühen können Betroffene Höhenflüge erleben. Denn, wie Susanne Walitza sagt: «Durch ihre oft vorhandene Neugier und ihren Mut sind Menschen mit ADHS oft innovativ und gehen neue Wege.» Bekannte ADHSler sind etwa die Kolumnistin Kafi Freitag, die Schauspielerin Emma Watson und der Unternehmer Bill Gates.
Gute Nachrichten gibt es auch für betroffene Frauen: Der Lücke in der ADHS-Diagnostik wird zunehmend Aufmerksamkeit geschenkt. So ist etwa im kommenden Jahr der Internationale Kongress «AD(H)S – weiblich» geplant. Und in sozialen Netzwerken wie Tiktok und Youtube berichten immer mehr Frauen über ihr Defizit, enttabuisieren das Thema und widerlegen Klischees.
Handlungsbedarf gebe es dennoch, sagt Anna Buadze: «Es braucht mehr Akzeptanz für Betroffene und mehr Studien zu ADHS bei Frauen.» Und auch in der Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen brauche es mehr Sensibilität für das Thema, so Susanne Walitza.
Damit keine Frau mehr 35 Jahre leiden muss.
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