Mutationen des Coronavirus sorgen in Europa für Angst (BLICK berichtete). Eine Variante in London sei 70 Prozent ansteckender und «ausser Kontrolle», warnten britische Politiker. Gleichzeitig tauchte auch in Südafrika ein neuer Abkömmling des Virus auf. Europa, auch die Schweiz, reagierte mit Einreisestopps. Wohl zu spät. Patrick Mathys vom Bundesamt für Gesundheit stellte am Montag fest: «Das Virus ist uns leider wieder einmal einen Schritt voraus.» Richard Neher (41) von der Universität Basel hat sich auf Viren-Mutationen spezialisiert – und schätzt den Ernst der Lage im BLICK-Interview ein.
Herr Neher, zur englischen Corona-Mutation hörte man Einschätzungen von «eine Katastrophe» bis «nicht besorgniserregend». Wie sehen Sie es?
Richard Neher: Wir wissen noch wenig Konkretes über die Auswirkungen der Mutation. Deshalb ist sicher Vorsicht geboten, einen Grund zur Panik gibt es aber nicht. Die neue Variante ist bemerkenswert und hat sich schnell ausgebreitet. Sie unterscheidet sich durch Mutationen im Oberflächenprotein. Dieses Protein ermöglicht es dem Virus, in menschliche Zellen einzudringen. Ungewöhnlich bei der englischen Variante ist, dass es im Oberflächenprotein gleich ein knappes Dutzend Mutationen auf einmal gibt.
Der britische Premierminister Boris Johnson (56) sagte, die Mutation sei 70 Prozent ansteckender. Aber immerhin im Krankheitsverlauf nicht schwerer. Ist das realistisch?
Beim Krankheitsverlauf gibt es tatsächlich keine Hinweise, dass der in irgendeiner Art und Weise anders ist. Zudem haben die britischen Kollegen beobachtet, dass sich die neue Variante rasant verbreitet hat im Vergleich zu anderen Corona-Varianten. Ob es aber genau 70 Prozent sind, ist nicht belegt. Dazu kommt eine Variante in Südafrika, die sich unabhängig entwickelt hat und sich dort schnell ausbreitet.
Schon 60 Prozent der Ansteckungen in London sollen auf den neuen Typ zurückgehen. Wie kann man darauf reagieren?
Wenn sich diese deutlich erhöhte Ausbreitung bestätigt, dann müsste man Kontakte noch weiter einschränken, um die Ausbreitung des Virus zu verhindern. Deshalb hat die englische Regierung auch so harte Massnahmen verhängt.
Wie kommt es zu Mutationen?
Mutationen sind quasi Tippfehler bei der Reproduktion des Virus. Gelegentlich ist so ein Tippfehler aber für das Virus nützlich, damit es sich besser an eine neue Umgebung anpassen kann. Hier gab es innert kurzer Zeit viele Tippfehler, die dem Virus eventuell halfen.
Passiert das einfach so spontan?
Es gibt eine Hypothese, dass sich die Variante in England in einem Patienten entwickelt hat, der chronisch mit dem Coronavirus infiziert war. Das passiert manchmal, wenn das Immunsystem nicht richtig funktioniert. Diese Leute sind Wochen oder Monate infiziert. Das ist quasi eine Petrischale für neue Corona-Varianten.
Angenommen, die Mutation wäre schon bei uns angekommen: Wüssten wir das?
Wir wüssten es wahrscheinlich nicht, nein. Dazu muss man in grossem Stil Genomsequenzierungen von Corona-Proben machen. In der Schweiz werden nicht alle Fälle derart untersucht. Man schaut meist nur, ob das Coronavirus nachgewiesen werden kann, aber nicht welcher Typ.
Wie viele Proben werden in der Schweiz pro Woche untersucht?
Etwa hundert pro Woche. Das hängt in der Schweiz alles an einem oder zwei Labors, es fehlen schweizweit koordinierte Bemühungen. Es wird momentan mit Hochdruck daran gearbeitet, dass man diese Tests im grossen Stil machen kann.
Das klingt, als wären wir ziemlich im Hintertreffen.
Das stimmt so nicht. Die Schweiz sequenziert pro Kopf relativ viel im europäischen Vergleich. Zwar deutlich weniger als die Briten, aber die sind da einfach weit voraus. Auch Dänemark oder die Niederlande sind weiter.
Wie beeinflusst die Mutation die Wirksamkeit der Impfung?
Britische Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Impfung auch gegen die neuen Varianten wirkt. Mittelfristig können solche Mutationen die Wirkung der Impfung eventuell abschwächen. Erfahrungen von anderen Viren zeigen aber, dass es länger dauert, bis ein Virus so stark mutiert, dass die Impfung weniger wirksam wird. Aber man muss das genau beobachten.
Die Flüge nach England und Südafrika sind eingestellt, dazu gibt es neue Quarantänebestimmungen. Reicht das oder braucht die Schweiz strengere Massnahmen?
Das ist schlussendlich ein politischer Entscheid. Es hängt aber vieles davon ab, ob und wie viel schneller sich die neue Variante ausbreitet. Deshalb ist es auch so wichtig, dass man überwacht, welche Varianten in der Schweiz unterwegs sind. Ideal wäre, mindestens ein Prozent der Corona-Tests zu sequenzieren.
Die Mutationsmeldung kommt zu einem Zeitpunkt, wo viele Menschen dank der Impfung gerade wieder einen Silberstreifen am Horizont sahen. Haben die neuen Varianten etwas an Ihrem Optimismus geändert?
Nein, ich bin nach wie vor optimistisch. Nach allem, was wir wissen, ist die Impfung sehr effizient. Im Sommer haben wir mit der Kombination aus Impfung und warmem Wetter eine reale Chance auf eine Normalisierung. Es wird aber eine gewisse Zeit dauern, bis ein Grossteil der Bevölkerung geimpft wird. Die nächsten Wochen und Monate werden eine schwierige Zeit.
Richard Neher ist Professor für Biophysik am Biozentrum der Universität Basel und Teil der Covid-Taskforce des Bundesrats. Der 41-Jährige untersucht, wie Viren mit der Zeit mutieren und sich verändern. Neher selber fasst es folgendermassen zusammen: «Wir bauen Stammbäume von Viren.»
Richard Neher ist Professor für Biophysik am Biozentrum der Universität Basel und Teil der Covid-Taskforce des Bundesrats. Der 41-Jährige untersucht, wie Viren mit der Zeit mutieren und sich verändern. Neher selber fasst es folgendermassen zusammen: «Wir bauen Stammbäume von Viren.»
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