Frau Hurst, seit über drei Wochen sind wir im Shutdown, trotzdem sinken die Fallzahlen kaum mehr. Warum?
Samia Hurst: Die Daten zeigen, dass die Bevölkerung immer noch recht mobil ist. Viele Menschen treffen sich also weiterhin, was zu neuen Ansteckungen führt. Zudem haben wir neue Virusvarianten, die ansteckender sind. Das macht es schwieriger, die Zahlen tief zu halten.
Ist die Stagnation auf dem jetzigen Niveau ein Problem?
Ja. Wenn sich die Fallzahlen so weiterentwickeln wie im Moment, wird die britische Variante das Infektionsgeschehen im Frühling dominieren. Dann droht eine dritte Welle. Wenn wir 2000 Fälle pro Tag haben und sich die Fallzahlen jede Woche verdoppeln, sind es zwei Wochen später 8000 Fälle – so wie im November.
Das wären schlechte Nachrichten für die Spitäler.
Es wäre schlimm für die Pflegenden und Ärztinnen, die seit einem Jahr fast keine Zeit zum Atemholen hatten. Es wäre ein Problem für die Wirtschaft, wenn viele Menschen krank oder in Quarantäne sind. Und natürlich wäre es ein Drama angesichts der vielen Todesopfer und Betroffenen, die eine solche Situation mit sich bringt. Etwa eine von vier Personen, die an Covid-19 erkrankt sind, leidet noch Monate später an Langzeitfolgen – diese reichen von Langzeit-Erschöpfung bis hin zu Invalidität.
Sie haben die verhältnismässig hohe Mobilität angesprochen. Wie bringt man diese herunter? Man kann die Leute ja nicht zu Hause einsperren.
Es geht nicht per se um die Mobilität, sondern darum, dass wir uns derzeit zu wenig vorsichtig verhalten. Zum Beispiel ist die Gefahr, sich anzustecken, fast 20-mal weniger, wenn man sich draussen trifft. Zudem müssen sich die Leute bewusst sein, dass sie andere anstecken können, auch wenn sie selber keine – oder noch keine – Symptome haben. Das Gute ist: Wir haben bewiesen, dass wir es besser können.
Tatsächlich?
Ja! Was vor und an Weihnachten passiert ist, war wirklich beeindruckend. Vor den Festtagen haben sich die Leute viel häufiger testen lassen. Und während der Feiertage haben viele Leute draussen oder mit sehr viel Abstand gefeiert. Das Resultat: Die Fallzahlen sind nicht explodiert. Eine wunderbare Erfahrung!
Wenn Sie einen Blick in die Zukunft wagen: Wie lange werden wir noch mit den heutigen Einschränkungen leben müssen?
Das Wichtigste ist, dass wir jetzt ein Licht am Ende des Tunnels sehen: Wer sich impfen lassen will, wird das in den nächsten Monaten tun können. Die zweite gute Nachricht ist, dass die Impfungen grösstenteils auch gegen die jetzigen Mutationen wirken und der Impfstoff künftig schnell angepasst werden kann.
Welche Möglichkeiten sehen Sie, die Zahlen weiter runterzubringen? Muss man die Skigebiete schliessen, die Hotels, die Schulen?
Es geht nicht nur um die Frage nach weiteren Massnahmen. Denn: Wenn wir denken, wir dürften alles tun, was nicht verboten ist, sind wir Teil des Problems. Soll ich mit meiner Familie nächste Woche in die Skiferien fahren? Erlaubt ist es. Werde ich es tun? Auf gar keinen Fall! Ich möchte nicht riskieren, nach meiner Rückkehr andere anzustecken.
Sie sind Professorin für Bioethik. Welche ethischen Fragen wirft die Pandemie auf?
Sehr viele ...
Samia Hurst (49) ist Professorin für Bioethik und Vizepräsidentin der wissenschaftlichen Taskforce des Bundes. Die ausgebildete Ärztin ist Direktorin des Departements für Gesundheit und Gemeinschaftsmedizin an der Uni Genf. Hurst ist verheiratet, hat vier Stiefkinder und wohnt in Genf.
Samia Hurst (49) ist Professorin für Bioethik und Vizepräsidentin der wissenschaftlichen Taskforce des Bundes. Die ausgebildete Ärztin ist Direktorin des Departements für Gesundheit und Gemeinschaftsmedizin an der Uni Genf. Hurst ist verheiratet, hat vier Stiefkinder und wohnt in Genf.
Zum Beispiel?
Solidarität ist zentral. Wenn wir gewisse Branchen schliessen, braucht es grosszügige Kompensationen. Das hat leider nicht immer geklappt. Viele Menschen haben – trotz anders lautender Versprechen der Politik – nur eine magere oder gar keine Entschädigung erhalten. Wir dürfen die Bevölkerung nicht derart im Stich lassen. Grundsätzlich zeigt uns die Krise in verschärfter Form auf, was wir als Gesellschaft gut machen – und was nicht.
Wie das?
Die Nachbarschaftshilfe während der ersten Welle war beeindruckend. Dagegen macht mir die Zersetzung der öffentlichen Debatte Sorgen. Ich habe Kollegen, die bedroht wurden, weil sie ihre Arbeit machen. Im Wallis haben Ärzte, die Corona-Impfungen anbieten, sogar Gewaltandrohungen erhalten. Wir müssen so miteinander umgehen, dass wir auch nach der Pandemie noch miteinander leben können.
Können wir aus der Krise auch etwas lernen?
Ja. Wir haben gemerkt, dass gewisse Tätigkeiten wichtig sind, obwohl wir sie nicht so behandeln. Ich denke da an die Migros-Kassiererin, aber auch an Künstler. Vielleicht sind Konzerte, Lesungen oder Kinofilme nicht überlebensnotwendig – aber wir brauchen sie zum Leben. Wir müssen sicherstellen, dass diese Menschen nicht durch die Maschen fallen.
Viele leiden unter der Einschränkung der Kontakte, dem monatelangen Homeoffice, dem Eingesperrtsein zu Hause mit der Familie. Was tun gegen den Corona-Blues?
Auch mir fehlt die frühere Unbeschwertheit im sozialen Umgang derzeit sehr. Unsere fundamentalen Bedürfnisse verändern sich ja nicht, nur weil wir in einer Pandemie stecken. Wir sind soziale Wesen. Wir können also nicht einfach den Atem anhalten und warten, bis alles vorüber ist. Sondern müssen versuchen, andere Wege zu finden, um unsere Bedürfnisse zu befriedigen. Sei es, indem man sich auf einen Spaziergang trifft, im Park einen Kaffee trinkt oder sich auf einen Zoom-Apéro verabredet. Dieser ist übrigens völlig zu Unrecht in Verruf geraten. Denn psychologisch ist erwiesen: Anderen in die Augen zu sehen, tut uns gut.