Sind Staatsschulden des Teufels? Seit Ausbruch der Pandemie und den damit verbundenen fiskalpolitischen Massnahmen tobt ein Streit darüber, wie stark die Corona-Schulden das Haushaltsbudget der Schweiz belasten. Es dürfe kein Dauerzustand sein, Schulden aufzubauen, betet Finanzminister Ueli Maurer (70) sein Mantra. Denn die Zeche, so die vornehmlich bürgerliche Meinung, bezahlten kommende Generationen. Nur langsam findet ein Umdenken statt.
Bei vielen Ökonomen stösst der Sparwahn auf Unverständnis. So auch bei Marius Brülhart. Der Lausanner Ökonomieprofessor ist Mitglied der bundesrätlichen Taskforce und war dabei, als die Schuldenbremse nach ihrer Einführung justiert wurde. Schulden, sagt der Ökonom, waren noch nie so günstig.
SonntagsBlick: Können wir uns diese Krise leisten?
Marius Brülhart: Auf jeden Fall.
Was macht Sie so sicher?
In normalen Zeiten reduzieren wir unsere Staatsschulden jedes Jahr um rund eine Milliarde Franken. Auf diese Weise und dank der guten Konjunktur konnte der Bund seine Schulden zwischen 2003, als die Schuldenbremse eingeführt wurde, und 2019 um 27 Milliarden Franken reduzieren. Sollte uns die Pandemie also 20 oder 25 Milliarden Franken kosten, dürften die Schulden innert 20 Jahren auch ohne Sparmassnahmen oder Steuererhöhungen wegschmelzen.
Der Präsident der Finanzdirektorenkonferenz, Ernst Stocker, schlägt dennoch eine befristete Erhöhung der Mehrwertsteuer zugunsten der Kantone vor. Was halten Sie davon?
Wie gesagt: Ich sehe zurzeit keinen Bedarf für Steuererhöhungen wegen der Corona-Staatsschulden.
Der Schweizer Staatshaushalt erfreut sich also bester Gesundheit?
Er ist einer der gesündesten weltweit! Das haben auch die Investoren gemerkt, und daher sind sie so erpicht darauf, dem Schweizer Staat Geld zu leihen, dass sie sogar auf Jahrzehnte hinaus negative Zinsen in Kauf zu nehmen bereit sind.
Damit ist der finanzielle Spielraum gegeben, um eine Krise abzufedern.
Fast kein anderes Land der Welt hat so viel fiskalische Munition, um die Volkswirtschaft zu stützen. Rechnen wir noch ein moderates Wirtschaftswachstum von eins bis drei Prozent jährlich hinzu, wird erst recht klar, dass uns die ökonomische Bewältigung der Krise keine Sorgen bereiten sollte.
Es wäre also töricht, wenn die Schweiz in der Krise knausert?
Man redet gern von Schulden in Milliarden oder als Anteil des Bruttoinlandprodukts. Wichtiger ist jedoch die Zinslast. Wenn ich eine langfristige Festhypothek bei einem Zins von fünf Prozent aufnehme, ist die Last ungleich grösser, als wenn der Zins bei 0,5 Prozent notiert.
Schulden waren also noch nie so günstig.
Der Bund kann sich heute fix für 50 Jahre zu einem negativen Zins verschulden. Stellen sie sich ein solches Hypothekenangebot vor! Fiskalpolitisch bestünde für die Schweiz also überhaupt kein Problem, sich noch weiter zu verschulden, sollte es nötig sein.
Gleichzeitig reut Finanzminister Ueli Maurer jeden Rappen, den er ausgebe muss, um die Pandemie abzufedern.
Sein Job, wie auch derjenige seiner Kollegen in den Kantonen, ist es, darauf zu achten, dass der Finanzhaushalt ausgeglichen bleibt. Jahr für Jahr. Doch nun sind wir mit einer Jahrhundertpandemie konfrontiert. In solchen Krisen bekunden Finanzminister bisweilen Mühe, umzuschalten. Allerdings sind sie in Tat und Wahrheit oft grosszügiger, als es ihre etwas ideologische Rhetorik vermuten liesse.
Woher rührt diese ideologische Rhetorik?
Denken Sie an die schwäbische Hausfrau, die eisern spart. Sie wurde zum Vorbild für gesunde Staatsfinanzen. Das ist unter normalen Umständen durchaus sinnvoll: Dafür haben wir die Schuldenbremse eingeführt.
Leider leben wir nicht in normalen Zeiten.
Deshalb gelten in Krisen andere Prioritäten. Unter Ökonomen in der Wissenschaft herrscht ein breiter Konsens darüber, dass in der gegenwärtigen Lage grosszügige staatliche Hilfe einer Sparpolitik vorzuziehen ist.
Wie schlägt sich die Schweiz derzeit?
Die Kurzarbeitsentschädigungen und die Erwerbsersatzentschädigungen haben sich bewährt. Das Geld fliesst, Arbeitsplätze bleiben erhalten, die Menschen fallen nicht in die Armut. Problematisch ist, dass die Covid-Kredite im Sommer nicht mehr erneuert worden sind.
Sie wurden nun durch die Härtefallregelung ersetzt.
Eine noch nicht ganz ausgegorene Massnahme. Zwar hat der Bund viel Geld gesprochen, doch die Kantone müssen die Auszahlungskriterien festlegen. Viele Kantone sind immer noch nicht so weit. Das verzögert schnelle Hilfe.
Verstehen Sie die Nervosität der Unternehmen?
Ja, und das aus gutem Grund. Aus der Politik waren lange fast nur Warnrufe zu hören: Das Geld sei knapp, Schulden seien schlecht, marode Unternehmen dürften nicht künstlich am Leben gehalten werden. Das führte zu Verunsicherung.
Wie hätte die Politik stattdessen agieren müssen?
Die Message hätte klar und deutlich lauten sollen: «Ihr müsst zum Wohle der Volksgesundheit grosse Umsatzeinbussen in Kauf nehmen, aber wir sorgen dafür, dass ihr trotzdem über die Runden kommt.» Dann wäre der Widerstand aus den betroffenen Branchen wohl auch weniger erbittert gewesen.
Waren Sie erstaunt, wie heillos die Kantone überfordert waren?
Der Bund hat die heisse Kartoffel an die Kantone weitergereicht. Kantone haben aber wenig Anreiz, konsequente Massnahmen zu erlassen, wenn die Kundschaft dann einfach in den Nachbarkanton ausweicht. Zudem wissen die Kantone auch immer den Bund im Rücken, falls es wirklich nicht mehr reichen sollte. Daher tun sie tendenziell zu wenig – was man zum Beispiel beim Contact Tracing sehr gut beobachten konnte.
Es waren die Kantone, die ihre Souveränität unbedingt zurückhaben wollten.
Nichtsdestotrotz: Die Bekämpfung einer landesweiten Epidemie sollte in erster Linie Sache des Bundes sein.
Was zu einer absurden Situation führte: Das Wohl der Wirtschaft wurde gegen die Gesundheit der Bevölkerung ausgespielt.
Diesen Trade-off gibt es in Akutphasen der Pandemie, wie wir sie zurzeit durchleben, kaum: Konsequente Eindämmung des Virus hilft mittelfristig auch der Wirtschaft. Verschiedene Branchenverbände sehen auch langsam ein, dass griffige Schutzmassnahmen flankiert mit finanzieller Unterstützung der einzige Weg sind. Und jetzt, wo die erlösende Impfkampagne kommt, gilt das erst recht: Je näher das Ende der Pandemie, desto mehr lohnen sich Anstrengungen, um sowohl Ansteckungen als auch Konkurse zu verhindern.
Marius Brülhart (53) ist ordentlicher Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Lausanne und Mitglied der Expertengruppe Economics der wissenschaftlichen Corona-Taskforce des Bundes. Seine Spezialgebiete: Staats-finanzen, Volkswirtschaft und internationaler Handel.
Marius Brülhart (53) ist ordentlicher Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Lausanne und Mitglied der Expertengruppe Economics der wissenschaftlichen Corona-Taskforce des Bundes. Seine Spezialgebiete: Staats-finanzen, Volkswirtschaft und internationaler Handel.