SonntagsBlick: Herr Chiesa, die SVP hat sich zur schärfsten Kritikerin der Krisenpolitik des Bundes aufgeschwungen. Ist Ihnen wohl in der Rolle des Besserwissers?
Marco Chiesa: Wir vertreten unsere Linie und unsere Wähler. Wenn wir mit den Entscheiden des Bundesrats nicht einverstanden sind, sagen wir das laut und deutlich. Unsere Rolle als Partei ist es nicht, sämtliche Entscheide der Regierung abzunicken.
Ihre Partei ist Teil der Regierung, stellt in den Kantonen zahlreiche Regierungsräte. Es ist nicht so, dass sie mit dem Kurs der Pandemiebekämpfung nichts zu tun hätte.
Die Vorstellung, dass eine Partei kollegiale Regierungsentscheide nicht kritisieren darf, ist ein krasser Widerspruch zu unserer Demokratie. Und unsere Kritik bewirkt etwas: Plötzlich sind auch alle anderen Parteien für schärfere Grenzkontrollen.
Die laut den Grenzkantonen nicht umsetzbar sind.
Das Tessin, auch Grenzkanton, sieht das anders. Mein Kanton unterstützt strengere Kontrollen.
Sie glauben, dass Grenzkontrollen die Lösung sind?
Nein. Der Bundesrat hat die älteren Menschen im Stich gelassen. Die Hälfte der Corona-Opfer ist älter als 86 – und fast die Hälfte der Opfer ist in Alters- und Pflegeheimen gestorben. Das schmerzt mich. Ich habe ein Altersheim geleitet. Diese Leute haben sich nicht im Fitnesscenter oder im Restaurant angesteckt. Aber statt sich um diese älteren Menschen zu kümmern, schliesst der Bundesrat lieber die gesunde Bevölkerung ein und fährt ganze Branchen an die Wand. Tausende von Arbeits- und Ausbildungsplätzen gehen verloren. Hinzu kommen die psychischen und sozialen Folgen – die Jugendpsychiatrien sind voll!
Heisst: Altersheime abriegeln?
Es ist längst bekannt, wie stark ältere Menschen gefährdet sind. Aber erst jetzt – fast ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie – hat der Bundesrat beschlossen Schnelltests für Altersheime zu forcieren. Es sind diese Versäumnisse, welche die SVP kritisiert.
Sie sprechen von den Altersheimen. Aber hohe Fallzahlen gefährden auch Menschen mit Vorerkrankungen – ganz zu schweigen von jenen, die unter den Langzeitfolgen von Covid-19 leiden.
Es braucht Massnahmen, um die Fallzahlen zu drücken, ja. Aber ein Lockdown ist nicht die Lösung. Schauen Sie nach Deutschland oder Italien: Dort bleiben die Fallzahlen trotz harter Massnahmen hoch. Dabei wissen wir, was hilft: Contact Tracing, Monitoring, Schnelltests. Das Contact Tracing funktioniert bis heute nicht, weshalb wir noch immer nicht wissen, wo es zu Ansteckungen kommt, und nicht in der Lage sind, die Infektionsketten zu unterbrechen.
Trotzdem will die SVP die Restaurants bereits wieder öffnen. Ein Widerspruch.
Die Restaurants hat man ohne faktenbasierte Grundlage geschlossen. Die Gastrobetriebe haben ihre Schutzkonzepte vorbildlich umgesetzt – und müssen trotzdem schliessen. Im Gegensatz zum öffentlichen Verkehr, wo die Leute weiterhin dicht an dicht stehen. Das ist eine willkürliche Politik.
Die Leute müssen ja weiterhin zur Arbeit fahren. Zudem trägt man in Restaurants – anders als im Zug – keine Maske.
Nochmals, die Restaurants haben sogar die Kontaktdaten ihrer Gäste erfasst. Wenn es nur um die Masken ginge: In den Läden haben alle Masken getragen. Es gibt also keinen vernünftigen Grund, Buchläden oder Kleidergeschäfte zu schliessen.
Eine weitere Forderung der SVP: Der Bundesrat soll bei der Taskforce «personelle Konsequenzen» ziehen. Muss die Wissenschaft Ihr Weltbild bestätigen, damit Sie ihre Ergebnisse akzeptieren?
Die Taskforce ist sich oft selber nicht einig. Nehmen wir die Schulen: Dort sind einige Taskforce-Mitglieder der Meinung, man solle die Schulen schliessen, während andere sie offen lassen wollen.
Also sind Ihrer Meinung nach die falschen Leute in der Taskforce?
Die Taskforce konzentriert sich auf den Gesundheitsaspekt. Aber man muss auch die Folgen für die Gesellschaft und die Arbeitsplätze diskutieren und abwägen.
Das tut der Bundesrat.
Nein, sonst hätte die Regierung nicht willkürlich Läden und Restaurants geschlossen.
Oft hat der Bundesrat wirtschaftliche Überlegungen höher gewichtet als die Empfehlungen der Taskforce.
Der Bundesrat hat die Restaurants im Dezember geschlossen, obwohl die Fallzahlen sanken. Danach hat er im Januar die Läden geschlossen, ohne den Effekt der vorangehenden Massnahmen abzuwarten. Das geht so nicht!
Deshalb fordert die SVP, mitten in der grössten Gesundheitskrise seit hundert Jahren, dem Gesundheitsminister das Dossier zu entziehen? Das ist reine Polemik.
Den ganzen Sommer über hat der Bund die Pandemie unterschätzt. Im Herbst haben wir gesehen, dass das ein Fehler war. Das Contact Tracing funktioniert nicht, bei den Impfungen herrscht Chaos. Wer ist dafür verantwortlich, wenn nicht Gesundheitsminister Alain Berset? Israel hat bereits 50 Prozent seiner Bevölkerung geimpft, in der Schweiz sind es ein paar Prozentchen. Wir fordern von Bundesrat Berset Klarheit. Als überzeugter Föderalist sage ich: Wir sollten den Kantonen mehr zuhören.
Wie meinen Sie das?
Als der Bundesrat die neuen Einschränkungen beschloss, war eine Mehrheit der Kantone dagegen. Die Befragung der Kantone war eine einzige Alibiübung. Dabei war es zu Beginn der Pandemie gerade der viel kritisierte Föderalismus, der es dem Tessin erlaubte, rasch echte Schutzmassnahmen zu ergreifen. Jetzt scheitert der Impfplan des Bundes. Noch vergangene Woche kritisierte Alain Berset die Kantone, nun kann er nicht liefern. Er sollte sich bei den Kantonen entschuldigen.
Die Hersteller haben Mühe zu liefern. Das kann man vom Bundesratszimmer aus schlecht beeinflussen.
Also bitte. Alain Bersets Departement legte öffentlich falsche Zahlen vor sowie einen Impfplan, der nicht aufgeht. Wer ist da verantwortlich? Der Chef natürlich!
2021 steht nicht nur im Zeichen der Pandemie, es jährt sich auch die Einführung des Frauenstimmrechts zum 50. Mal. Wäre es nicht an der Zeit, dass die SVP eine Bundesrätin stellt?
Sehr gerne! Ich habe schon drei, vier Namen im Kopf. Fragen Sie nicht, die verrate ich nicht (lacht).
Die nächste SVP-Kandidatur ist also eine Frau?
Bundesratskandidaturen sind von vielem abhängig. Aber wir haben in der Deutschschweiz und in der Romandie sehr fähige Politikerinnen. Für uns ist die Kandidatur einer Frau durchaus ein Ziel.
Im vergangenen August wählte die SVP Marco Chiesa (46) zum Präsidenten. Sein politischer Werdegang begann in Lugano TI, führte ihn 2007 in den Tessiner Grossrat. 2015 wurde Chiesa Nationalrat, vier Jahre später Ständerat. Den Beginn der Corona-Pandemie erlebte der Betriebswirt als Leiter eines Altersheims. Chiesa ist verheiratet und Vater zweier Söhne.
Im vergangenen August wählte die SVP Marco Chiesa (46) zum Präsidenten. Sein politischer Werdegang begann in Lugano TI, führte ihn 2007 in den Tessiner Grossrat. 2015 wurde Chiesa Nationalrat, vier Jahre später Ständerat. Den Beginn der Corona-Pandemie erlebte der Betriebswirt als Leiter eines Altersheims. Chiesa ist verheiratet und Vater zweier Söhne.