Auf einen Blick
So einfach läufts manchmal. Es ist der 4. November, also gerade mal fünf Wochen her. Ein sehr ungleiches Paar hat einen Videocall vereinbart. Auf der einen Seite: Multimillionär Antonio Beltrame im norditalienischen Vicenza. Auf der anderen Seite: Roger Nordmann aus Lausanne, Vertreter der Sozialdemokraten und Energiepolitiker. Thema: das kriselnde Stahlwerk in Gerlafingen SO, das im Besitz von Beltrame steht.
Beltrame erscheint mit ein paar Spezialisten zum Call, Nordmann sitzt allein vor dem Bildschirm. Der Call wird eineinhalb Stunden dauern. Gesprochen wird Italienisch, «was der Sache helfen wird», sagt ein mit der Sache Vertrauter, denn auch Nordmann spreche fliessend Italienisch.
Beltrame habe sich im Call über die passive Haltung der zuständigen Bundesräte Guy Parmelin und Albert Rösti beklagt, erzählt Nordmann der «Handelszeitung». Der Besitzer des Werks Gerlafingen habe den Wirtschaftsminister mehrmals und den Umweltminister einmal getroffen und erklärt, wie gross die finanzielle Not des Stahlwerks sei. Und doch sei «nichts dabei herausgekommen». So steht es auch im Interview mit der «NZZ am Sonntag» vom 13. Oktober: «Ich bin enttäuscht vom Bundesrat», sagte Nordmann damals. Man habe ihm wiederholt erklärt, es gebe «keine gesetzlichen Grundlagen». Doch es wird anders kommen.
Daraufhin habe Nordmann dem Multimillionär (oder Milliardär, so genau weiss man das nicht) zuerst das Schweizer Politsystem erklärt. Nämlich, dass ein Industrieller hier nicht einfach zu Ministern vorstossen und eine Subvention auf Basis von Dekreten verlangen dürfe. Bei uns brauche es das Parlament dazu, das aber durchaus ein Gesetz gegen die Meinung der Regierung verabschieden kann. Ein längeres Gespräch folgte.
Virtueller Handschlag von Nordmann und dem Stahlpatron
Und dann kommt es zum virtuellen Handschlag: Der Patron verspricht Nordmann, zu kooperieren. «Am Ende des Gesprächs sagte Beltrame: ‹Wir werden die Entlassungen zurücknehmen, wenn Sie es schaffen, die temporäre Senkung des Netzentgelts aufzugleisen›», erzählt Nordmann. Du hilfst mir, ich helfe dir.
Es kommt zu einem Gentlemen's Agreement. Beltrame zahlt während vier Jahren weniger für Strom, Nordmann kann seinem Mitstreiter Christian Imark (SVP), seiner SP, den Grünen und den Gewerkschaften vermelden, Arbeitsplätze gerettet zu haben.
Nordmann wird sein Wort wohl halten können. Im Nationalrat haben ein Viertel der SVP und Nordmanns SP-Fraktion zusammen mit den Grünen und einem Grossteil der Mitte-Partei dem Deal zugestimmt. Zwar stimmte eine Mehrheit der FDP und der von Martullo-Blocher dominierte SVP-Teil zusammen mit den Grünliberalen dagegen. Doch die Abstimmung endete mit 105 Ja gegen 84 Nein – ein klares Resultat. Im Ständerat stehen die Ampeln ebenfalls auf Grün. Eine knappe Mehrheit wird dem Beltrame-Stahlkonzern wohl entgegenkommen.
Der Trick mit dem aktuellen Gesetz
Doch wie kommt es, dass diese Hilfe in solchem Eilzugstempo überhaupt möglich wird, während andere Gesetzesänderungen Jahre dauern? Das Notrecht braucht es nicht, wie sich zeigen wird. Der Tipp, wie Hilfe funktionieren kann, kommt von Politfuchs Nordmann: Das Parlament berät gerade ein Gesetz, bei dem es um Reservestrom geht, und darin könnte man die Subvention mit wenig Aufwand unterbringen.
Das offizielle Argument ist nämlich nicht der Erhalt der Arbeitsplätze – offiziell geht es Nordmann und seinen Mitstreitern vielmehr um die Erhaltung des Metallrecyclings innerhalb der Landesgrenzen. Laut gut unterrichteten Quellen hat ein Amt unter Energie- und Umweltminister Rösti dabei tatkräftig mitgeholfen: das Bundesamt für Umwelt (Bafu). Es warnte im Frühjahr davor, dass das inländische Metallrecycling einen massiven Dämpfer bekommen könnte, sollte Gerlafingen geschlossen werden. Die Solothurner Abgeordneten nahmen den Ball dankbar an und spielten ihn im März ins Parlament.
Der SVP-Energiepolitiker Christian Imark und die Solothurner SP-Ständerätin Franziska Roth lancierten gleichlautende Vorstösse, die den Erhalt per Subventionen forderten.
Ihre Politkollegen vom Kanton, FDP-Vertreter Simon Michel und Mitte-Ständerat Pirmin Bischof, liessen sich lokalpatriotisch einspannen – wie auch ihre Parteigspänli aus dem Luzernischen und aus dem Wallis, wo ebenfalls je ein Stahlwerk steht. Doch diese Vorstösse hätten in der Umsetzung Jahre gedauert. Massgeblich war Nordmanns Vorschlag, die Strompreissubvention für Gerlafingen im aktuell zu beratenden Stromreservegesetz unterzubringen.
«Überbrückungshilfe»
Konkret geht es um «Überbrückungshilfen für Eisen-, Stahl- und Leichtmetallgiessereien von strategischer Bedeutung». Im neuen Gesetzesartikel sind ein paar Bedingungen formuliert, darunter etwa jene, dass Beltrame «nachhaltige Investitionen» machen muss, dass er keine Dividenden aus Gerlafingen ziehen darf und dass die Hilfen zurückbezahlt werden müssen, sollte Beltrame sein Wort brechen.
Mit Überbrückungshilfen ist konkret gemeint, dass Beltrame im nächsten Jahr die Hälfte der Stromnetzgebühr nicht zahlen muss. Je nach Quelle wird ein entsprechender Betrag zwischen 7 und 15 Millionen Franken im ersten Jahr genannt. Nach vier Jahren läuft die Hilfe aus und ist degressiv ausgestaltet. Finanziert würde dieser Rabatt von den restlichen Schweizer Stromabnehmern, die entsprechend höhere Netzgebühren bezahlen müssten.
Der Betrag ist im Verhältnis zum Gewinn und Umsatz so klein, dass er sowohl Gegnern als auch Befürworterinnen als Argument dient: den Gegnern dahingehend, dass die Hilfe viel zu klein sei, um etwas zu bewirken. Den Befürworterinnen in dem Sinne, dass die Hilfe klein sei und dennoch viel bewirke.
Beltrame wollte den Deal mit Nordmann nicht kommentieren und verwies auf seine Sprecher in der Schweiz, das Berner PR-Büro Furrerhugi. Dieses beantwortete die Anfrage nicht. Dass Nordmann Beltrame anrief, hatte handfeste Gründe: Für die SP stehe viel auf dem Spiel, sagt ein Kenner, denn für die Partei sei es «nicht ganz banal», einem vermögenden Investor mit Staatsmitteln unter die Arme zu greifen. «Er wollte ganz sicher sein, dass Beltrame kein falsches Spiel spielt.»
Weitere Umweltsubventionen werden schon verhandelt
Sehr wahrscheinlich wird es nicht bei dieser Überbrückungshilfe bleiben. Nordmann sagt, er habe von Beltrame eine unverbindliche Zusage erhalten, dass der Konzern in die energiesparende Verbesserung der Stahlproduktion investieren werde, sollte das Parlament zustimmen. Laut Nordmann geht es konkret um die Reduktion des Gasverbrauchs zur Erhitzung von Stahl, bevor dieser verformt werde. «Diesen Verbrauch will Beltrame reduzieren», sagt Nordmann.
Eine längerfristige Zusage habe er, der SP-Mann, zwar nicht erhalten. Aber er konnte sich über die Eckwerte des Businessplans ein Bild machen, denn der Plan wurde der Umweltkommission des Parlaments präsentiert. «Der Plan für die Effizienzsteigerung ist klar, und ich bin mir sicher, dass Beltrame das Wort hält», so Nordmann. SVP-Nationalrat Imark, der Beltrame nie getroffen hat, hält fest, dass Stahl Gerlafingen ein «Investitionsprojekt zur Absenkung des CO2-Ausstosses» in Aussicht gestellt habe.
Dieses zweite Versprechen Beltrames hat gute Gründe: Hinter den Kulissen verhandeln das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), das Bundesamt für Umwelt (Bafu) und das Stahlwerk Gerlafingen bereits über Förderhilfen unter dem Titel Klima- und Innovationsgesetz. Die Regeln für die Subventionen treten im Januar in Kraft. Im Gesetz heisst es: «Der Bund sichert Unternehmen bis 2030 Finanzhilfen zu für die Anwendung von neuartigen Technologien und Prozessen.» Davon könnte Beltrame profitieren. «Verhandlungen mit dem Bund sind bereits im Gange», so Imark.
SVP-Nationalrat: «Ich bin kein Dogmatiker»
Darauf angesprochen, dass Imark als SVPler diese Subventionen unterstützt, sagt er: «Ich bin kein Dogmatiker.» Er verweist auf all die Partikularinteressen der bürgerlichen Ratsseite, allen voran der Landwirtschaft.
Die Departemente von Albert Rösti und Guy Parmelin bestätigen, dass sie bereits daran seien, dem Stahlwerk Gerlafingen unter dem Titel Klimasubventionen unter die Arme zu greifen, und dies «über bestehende Instrumente der Innovations- und Klimapolitik», betont das Departement von Parmelin. Gleiches hört man von Rösti.
Und so scheint es, dass der Widerstand der gegnerischen Reihen aus FDP, SVP und den Grünliberalen so schnell dahin schmilzt wie die Gletscher. Offenbar ist das Seco mit seiner ordnungspolitischen Wirtschaftspolitik durch unorthodoxe Klimapolitik zweier SVP-Bundesräte schachmatt gesetzt worden.