Corona ist auch eine Pandemie der Zahlen: Fälle, Werte, Inzidenzen – noch nie hat die Welt so viele Tabellen produziert. Doch Statistiken dienen nicht nur der Wissenschaft, sie sind auch ein Instrument der Politik.
Den jüngsten Beweis dafür liefert der Kanton Bern: Anfang Juli gab SVP-Gesundheitsdirektor Pierre Alain Schnegg (58) bekannt, er wolle die Schüler nach den Sommerferien vorerst nur drei Wochen lang testen lassen: «Mit diesem Bild werden wir einen definitiven Entscheid fällen können, ob es weiterhin Massentests oder andere Methoden gibt.»
Anfänglich Positivitätsrate von 0,09 Prozent
Zunächst wirkte dieses Bild tatsächlich prächtig. Die erste Schulwoche nach den Ferien förderte sehr tiefe Werte zutage, ebenso die zweite: Da führten 84'624 Tests zur Entdeckung von 81 Fällen; die Positivitätsrate lag bei 0,09 Prozent – so tief wie in keinem anderen Kanton. Schnegg war auf Kurs: Wozu Massentests, wenn die Zahlen so tief sind?
Das BAG indes stellte eine andere Frage: Weshalb liegen die Infektionszahlen so tief? Sämtliche Schultests im Kanton Bern wurden bislang von einem Labor in Münsingen BE ausgewertet. Nun aber verlangte das BAG, die Spuckproben der Schüler von zwei anderen Labors analysieren zu lassen – zur Sicherheit.
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Am Donnerstag und Freitag vorletzter Woche nahmen sich diese Labors die angelieferten Proben vor. Und die Werte schossen in die Höhe. Waren es am Montag noch drei Infektionsfälle bei rund 18'000 Schülerinnen und Schülern – eine Positivitätsrate von 0,01 Prozent –, registrierten die neuen Labors am Donnerstag 70 Fälle bei rund 20'000 Schülerinnen und Schülern. Damit lag die Positivitätsrate plötzlich bei 0,33 Prozent. Am Freitag waren es dann zehn Fälle bei rund 2200 Getesteten und die Rate stieg sogar noch weiter – auf 0,44 Prozent.
Damit war klar: Die bis dahin veröffentlichten Zahlen der Schultestungen aus dem Kanton Bern entsprachen nicht der Realität. Sie waren zu tief. Denn das Labor in Münsingen hatte positive Proben als negativ ausgewiesen. Wie viele es wirklich waren und was genau falsch lief, weiss bis heute niemand. Doch der rasante Anstieg nach dem Laborwechsel liess Böses erahnen – und das ausgerechnet im Kanton Bern, wo Regierungsrat Schnegg mit dem Hinweis auf das vermeintlich rosige Bild gerade die Schultestungen beendete. Schlechtes Timing. Was tun?
Pierre Alain Schnegg tat überhaupt nichts – wohl in der Hoffnung, die unangenehme Geschichte würde in der Menge der wöchentlichen Durchschnittswerte verborgen bleiben. Denn nur die gibt der Kanton frei.
Reine Fiktion?
Nach der dritten Schulwoche war ihnen zu entnehmen, dass die durchschnittliche Positivitätsrate nun bei 0,12 Prozent liege. Die Zahl war zwar höher als in der Vorwoche, ging aber im allgemeinen Datenwust unter. Dabei hat sie es in sich: Sie ist reine Fiktion und müsste realistischerweise noch viel höher sein.
Genau dies belegt ein Papier, das die Öffentlichkeit nie sehen sollte: eine Resultatübersicht zu den Berner Schultests in der dritten Woche nach Semesterbeginn – aufgeschlüsselt nach Einzeltagen.
SonntagsBlick ist im Besitz dieses Dokuments. Daraus geht hervor: Der vom Kanton veröffentlichten durchschnittlichen Positivitätsrate für diese Woche liegen die Daten von Montag bis Mittwoch zugrunde – und die weisen tiefe Werte zwischen 0,01 und 0,06 Prozent auf. Diese Werte drücken den Schnitt massiv nach unten. Doch sie stammen vom Labor in Münsingen, sind also fehlerhaft.
Eigentlicher Schnitt von 0,3 Prozent
Wären diese Tage ebenfalls fehlerfrei ausgewertet worden, läge die Infektionsrate wie am Donnerstag und Freitag, als andere Labors die Tests analysierten, bei mindestens 0,3 Prozent – und dort läge dann auch der Durchschnitt.
Doch der Öffentlichkeit präsentierte man den Wochenschnitt von 0,12 Prozent – unkommentiert. Dabei verschleiert diese Zahl einen gewaltigen Unterschied, wie ein Vergleich der aktuellen Werte mit denen der letzten Schulwoche vor den Ferien zeigt: Damals betrug die Positivitätsrate 0,006 Prozent. Gemessen an der gegenwärtig amtlichen Positivitätsrate des Kantons Bern von 0,12 Prozent haben sich die Ansteckungen seit Ende des letzten Schuljahrs um den Faktor 20 erhöht – nicht lediglich um das Sechsfache, wie Regierungsrat Schnegg noch am letzten Wochenende hervorhob.
Bern schweizweit mit grösster Zunahme?
Eine derart hohe Zunahme der Infektionen weist ansonsten nur der Aargau auf. Bloss: Hätte es die Fehler in Münsingen nicht gegeben, würde die Positivitätsrate im Kanton Bern nicht 0,12 Prozent, sondern wohl mindestens 0,3 Prozent betragen. Dann wäre im Vergleich zur letzten Woche vor den Ferien mit dem Faktor 50 zu rechnen – und das wäre einsamer Schweizer Rekord.
Von alledem wusste die Öffentlichkeit bis heute nichts. Stattdessen wurde sie Zeuge, wie der Kanton Bern dank vermeintlich prächtiger Werte seine Massentests stoppte. Noch am Donnerstag sagte der Berner Gesundheitsdirektor: In insgesamt zwölf Wochen, in denen der Kanton an den Schulen getestet habe, seien bloss etwa 350 Fälle gefunden worden. Entdeckt wurden tatsächlich nicht mehr – weil das Labor fehlerhaft analysierte. Pierre Alain Schnegg behielt das allerdings für sich.
SonntagsBlick konfrontierte die Berner Gesundheitsdirektion mit den Ergebnissen seiner Recherche. Doch Schneggs Sprecher Gundekar Giebel winkte ab: «Eine spezielle Kommunikation war nicht nötig.» Giebel hält lieber weiterhin an dem schönen Bild der Berner Gesundheitsdirektion fest, wenn er argumentiert, die Gesamtentwicklung habe zugenommen, weil auch die nationale Fallentwicklung eine markante Steigerung ausweise.
Fehlende Transparenz
Alles in bester Ordnung also? Die Berner SP-Nationalrätin Flavia Wasserfallen (42) sieht es anders: «Fehler können passieren. Aber es geht nicht, so etwas Gravierendes einfach unter den Tisch zu kehren.» Rudolf Hauri (61), Zuger Kantonsarzt und Präsident der Vereinigung der Kantonsärzte, sieht es ähnlich: «Natürlich gehören Fehler zur Praxis, und es ist richtig, ihnen nachzugehen. Ebenso wichtig ist es aber, die Fehler anschliessend auch bekannt zu geben. Das ist eine Frage der Transparenz.»
Die neue Ausgangslage lässt Schnegg offenbar kalt: Massentests kommen für ihn auch jetzt nicht infrage. «Der Kanton hat von relativ ungenauen Massentests auf das effizientere Ausbruchstesten umgestellt», sagt sein Sprecher.
Sind Ausbruchstestungen also am Ende nicht nur die bequemere, sondern auch die bessere Methode? «Wir haben in Zug sehr gute Erfahrungen mit den seriellen Schultestungen gemacht», sagt Rudolf Hauri. «Sie haben Ruhe in die Klassenzimmer gebracht. Hektisches Ausbruchsmanagement bewirkt eher das Gegenteil.»
Braucht Bern wieder Massentests?
Der Virologe Andreas Cerny (65) sieht es so: «Die regelmässige Testung der Lehr- und Hilfspersonen und Kinder in Schulen ist ein anerkanntes, effektives und auch empfohlenes Instrument der Epidemiebekämpfung.» Eine Umstellung auf das Ausbruchsmanagement sei nur dann zu empfehlen, wenn nur wenige positive Fälle gemeldet werden. Dass dies in Schneggs Reich der Fall ist, darf allerdings bezweifelt werden. Deshalb fordert Flavia Wasserfallen: «Der Kanton Bern muss die Massentests in den Schulen wiederaufnehmen!»
Für Pierre Alain Schnegg ist das alles kein Grund, von seinem Kurs abzuweichen. Er hält an dem Bild fest, das er sich im Juli schuf – unbeeindruckt von der Realität. Und auf Kosten der Kinder.