«Es braucht einheitliche Massnahmen an den Schulen»
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Oberste Schweizer Lehrerin:«Es braucht einheitliche Massnahmen an den Schulen»

Stress, Verunsicherung, Desinteresse
Corona-Chaos an Schulen hat Folgen für Kinder

Die hohen Ansteckungszahlen und das Massnahmen-Wirrwarr im Bildungssektor strapazieren Lehrkräfte, stressen Eltern – und gefährden die psychische Gesundheit von Schülerinnen und Schülern.
Publiziert: 12.09.2021 um 13:09 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2021 um 15:09 Uhr
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Das Corona-Chaos an den Schulen kann Kinder belasten und verunsichern.
Foto: Igor Kravarik
Dana Liechti und Danny Schlumpf

Die Lage an den Schweizer Schulen ist mehr als angespannt. Seit dem Ende der Sommerferien werden immer mehr Kinder und Jugendliche positiv auf das Coronavirus getestet, verbringen Tausende ihre Tage in Quarantäne. Einige Kantone melden einen Anstieg der Corona-Werte um das Zwanzigfache im Vergleich zum Ende des letzten Schuljahrs.

Gut möglich, dass manche Kinder das Virus aus den Ferien mitgebracht haben. Und vielleicht, gibt Dagmar Rösler, Zentralpräsidentin des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH), zu bedenken, habe man wirksame Massnahmen an den Schulen zu früh zurückgefahren – oder sie gar nicht erst in Angriff genommen.

Die Schweiz, ein Massnahmen-Flickenteppich

Hinzu kommt: Mit den steigenden Ansteckungszahlen geht jeder Kanton, oft sogar jede Schule anders um – und die Massnahmen wechseln häufig innerhalb von Tagen. Zum Beispiel die Maskenpflicht: Während sie etwa in Solothurn, Nidwalden oder Basel-Stadt gar nicht besteht, haben sie die Kantone Aargau und Luzern von der fünften Klasse an gerade erst wieder eingeführt. Zürich empfiehlt die Maske, im Wallis müssen sie alle Kinder tragen, die beim Spucktest nicht mitmachen – und im Jura entfällt die Pflicht, weil man Massentests eingeführt hat.

Die Schweiz, ein grosser Flickenteppich. Bei Lehrkräften und Eltern sorgt das Wirrwarr für Unmut. Viele wünschen sich ein einheitlicheres Vorgehen. Dagmar Rösler: «Es wäre schön, wenn sich die Kantone zusammenraufen würden und sich auf eine gemeinsame Strategie in Bezug auf die effektive Bekämpfung des Virus auch in den Schulen einigen könnten!» Seit eineinhalb Jahren fordere ihr Verband vergeblich ein koordiniertes Vorgehen der Kantone, so Rösler.

Althaus plädiert für schärfere Massnahmen

Doch die meisten pochen auf ihre Autonomie. SonntagsBlick hat die Kantone angeschrieben. Nur Basel-Stadt lässt verlauten, man würde schweizweite Lösungen begrüssen.

Erschwert wird dies dadurch, dass auch Fachpersonen darüber uneins sind, welche Schritte tatsächlich vonnöten wären. «Statt Massnahmen aufzuheben, hätte man im Gegenteil sogar mehr auf die Kinder und Schulen fokussieren sollen», sagt Epidemiologin Olivia Keiser von der Universität Genf. Denn auch bei Kindern könne es zu einer schweren Erkrankung und zu Long-Covid-Fällen kommen, zum Beispiel mit Problemen beim Atmen und Konzentrationsschwierigkeiten.

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Auch der Berner Epidemiologe Christian Althaus befürchtet, dass man die Schulen nicht früh genug fit für den Winter gemacht hat und die Gesamtsituation – ähnlich wie vergangenen Herbst – ausser Kontrolle geraten könnte. Sein Lager plädiert für schärfere Massnahmen.

Auf der anderen Seite betont Christoph Berger, Präsident der Schweizer Impfkommission, die Krankheit verlaufe bei infizierten Kindern meist asymptomatisch oder mild.

Regelmässige Massentests helfen

Maskentragen und Quarantäne für ganze Klassen sind daher aus Bergers Sicht aktuell nicht notwendig – wöchentliches Testen genüge, um grosse Ausbrüche zu vermeiden.

Bei allen Differenzen sind sich die Fachleuchte einig: Regelmässige Massentests in den Schulen helfen, das Geschehen einigermassen unter Kontrolle zu haben. In den Kantonen jedoch hat sich diese Erkenntnis noch nicht durchgesetzt. So gibt es auch bei den Tests keine einheitliche Strategie. Einige Kantone verpflichten die Schulen, repetitive Tests anzubieten. Andere wollen nur nach Ausbrüchen testen. Wieder andere überlassen diese Entscheidung den einzelnen Schulgemeinden.

Dabei sei die Positivitätsrate in Kantonen mit hoher Beteiligung an regelmässigen Massentests vergleichsweise tief, sagt der oberste Kantonsarzt Rudolf Hauri. Einmal installiert, sei die Testroutine unkompliziert in der Handhabung und anderen Massnahmen vorzuziehen. So könne man etwa dank Massentests weitgehend auf die Anordnung von Quarantäne verzichten. «Das Ausbruchsmodell hingegen bringt eher Unruhe in die Schulhäuser.»

Auch die Eltern sind sich nicht einig

Doch selbst wenn nun alle Schulen im Land verpflichtet würden, Massentests anzubieten, bestünden weiterhin Hürden, sagt Dagmar Rösler. Da man die Schülerinnen und Schüler nicht verpflichten könne, sich testen zu lassen, sei man auf die Mitarbeit der Eltern angewiesen.

Doch – kaum überraschend – herrscht auch bei denen grosse Uneinigkeit. Einige Eltern wünschen sich strengere Massnahmen und finden es stossend, dass an manchen Schulen auch ungeimpfte Lehrpersonen weder Maske tragen noch an regelmässigen Tests teilnehmen müssen. Andere kämpfen ihrerseits gegen jegliche Massnahmen an.

Leidtragende des allgemeinen Zögerns und Zauderns, der Uneinigkeit und des Unmuts sind aber nicht nur besorgte Eltern und gestresste Lehrkräfte – am stärksten betroffen sind die Schülerinnen und Schüler selbst. Denn mit dem Chaos an den Schulen setzen die Verantwortlichen nicht nur die körperliche, sondern auch die psychische Gesundheit der Jüngsten aufs Spiel.

Die Folgen sind Verunsicherung und Stress

«Die unterschiedlichen und wechselnden Regeln an den Schulen sowie die unterschiedlichen Einstellungen von Eltern und Lehrpersonen, Politikern und Fachpersonen bezüglich Massnahmen und Gesundheitsrisiken bei Minderjährigen dürften viele Kinder und Jugendliche belasten und verunsichern», sagt der Neurowissenschaftler Dominique de Quervain.

Die Folgen seien gravierend: Verunsicherung könne Stress auslösen, «ein bekannter Risikofaktor für depressive Symptome wie Niedergeschlagenheit, Schlafstörungen, aber auch Versagensängste und Interessensverlust». Stress könne sowohl die Stimmung der Kinder und Jugendlichen als auch deren Lernerfolg negativ beeinflussen.

Der Neurowissenschaftler mahnt daher Schutzmassnahmen an, die einen sicheren und geregelten Schulbetrieb ermöglichen. Und zwar einheitliche.

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