Bei den Politikern liegen die Nerven blank. Die SVP beschimpft SP-Gesundheitsminister Alain Berset (48) als «Diktator». JSVP-Präsident David Trachsel (26) verunglimpft Wirtschaftsminister Guy Parmelin (61) als «halben SVP-Bundesrat». Und der Skiterrassen-Sonderbund leckt nach dem Schliessungsverdikt aus Bundesbern rachedurstig die Wunden.
Die gedemütigten Bergler erhalten bereits in der am Montag beginnenden Frühlingssession Gelegenheit zur Revanche. Im Fokus steht dabei das Covid-19-Gesetz, das erneut angepasst werden muss. Eigentlich geht es dabei um wirtschaftliche Abfederungsmassnahmen wie die Erhöhung der Härtefallgelder oder Verbesserungen bei Kurzarbeit und Arbeitslosengeld.
Doch in den letzten Tagen drehte sich alles nur noch um den nächsten Öffnungsschritt. Eine Mehrheit aus SVP, FDP und Der Mitte in der nationalrätlichen Wirtschafts- wie auch der Gesundheitskommission wollen den 22. März zum Tag des Lockdown-Endes erklären – gesetzlich festgeschrieben. Egal, ob eine dritte Corona-Welle im Anrollen ist oder nicht. Der Bundesrat würde damit entmachtet. Und der wissenschaftlichen Taskforce wollen die bürgerlichen Wirtschaftspolitiker auch gleich noch einen Maulkorb umbinden.
Die ständerätliche Wirtschaftskommission beliess es derweil bei einem Brief an den Bundesrat, in dem sie auf eine Öffnung der Restaurantterrassen per 1. März und eine vollständige Öffnung von Beizen sowie Freizeit-, Kultur- und Sportbetrieben per 15. März drängt.
Gehässigkeiten auf Twitter
Im Corona-Grabenkampf entladen sich die Gehässigkeiten auch auf Twitter. Wer eine dritte Welle «bewusst in Kauf nimmt, handelt verantwortungslos», rüffelt FDP-Nationalrat Kurt Fluri (65, SO) selbst die eigenen Parteikollegen. «SVP-Rhetorik ist Trumpismus pur und nur gefährlich», wettert Die-Mitte-Fraktionschefin Andrea Gmür (56).
Und Die-Mitte-Nationalrätin Ruth Humbel (63, AG) legt nach: «So funktionieren die China-Freunde der SVP und ihre Mitläufer, getreu dem Leitgedanken: Nichts gegen totalitäre Verhältnisse nach dem eigenen Parteidiktat.»
Grünen-Präsident Balthasar Glättli (49) nimmt derweil Die Mitte ins Visier. Die bürgerliche Mehrheit wolle den Bundesrat entmachten «mit Ziel dritte Welle» – und Die Mitte könne genau dies stoppen. «Sie läuft aber bisher in den Kommissionen in der grossen Mehrheit im Gänsemarsch Thomas Aeschi und Co. hinterher.»
Es geht um einen Machtkampf
Damit steht auch eine gehässige Frühlingssession vor der Tür. «Es wird sicher keine Heiratsanträge geben», meint SP-Co-Chef Cédric Wermuth (35) sarkastisch. «Die Bürgerlichen lenken mit ihren Öffnungsforderungen bloss von ihrer Blockadehaltung bei den Wirtschaftshilfen und der Erhöhung der Kurzarbeit ab.»
Auch SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi (42) rechnet mit «intensiveren Diskussionen». Immerhin gehe es auch «um einen Machtkampf zwischen Bundesrat und Parlament», wie er einräumt. «Wir sind ein Abbild des Volkes und können die bundesrätlichen Massnahmen immer weniger nachvollziehen.»
Die Krux sieht er im Epidemiengesetz, dem das Stimmvolk 2013 zugestimmt hat. «Man hat dem Bundesrat damit mehr Kompetenzen erteilt, als man sich damals vorstellen konnte. Das Epidemiengesetz muss deshalb rasch überarbeitet werden.»
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«Es brodelt wie in einem Dampfkochtopf»
Für die Luzerner Die-Mitte-Ständerätin Gmür ist klar: «Bei der Corona-Problematik sind die Emotionen hochgegangen. Es brodelt wie in einem Dampfkochtopf, der auf alle Seiten überläuft – da müssen wir nun Dampf ablassen.» In der Session müsse sich die Diskussion nun klar versachlichen. Da viele Risikopersonen bereits geimpft seien, müssten nun die psychosozialen, bildungspolitischen und wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns stärker gewichtet werden, so Gmür. «Wir fordern vom Bundesrat einen Strategiewechsel, aber ohne ihm die Hände zu binden. Seine Handlungsfähigkeit wollen wir erhalten.»
Den Ausweg bietet ein Vorschlag von Die-Mitte-Nationalrat und Ex-BDP-Präsident Martin Landolt (52, GL), den die nationalrätliche Wirtschaftskommission übernommen hat. Mit einer «Erklärung» soll der Bundesrat zu einer Strategieanpassung und weiteren Lockerungen aufgefordert werden – etwa der Aufhebung der 5-Personen-Regel für private Treffen zu Hause oder um Planungssicherheit für kulturelle und sportliche Grossanlässe zu schaffen.
Berset stellt Lockerungen in Aussicht
Auch SP-Magistrat Berset versucht die Wogen wieder zu glätten – nachdem ihn das Skiterrassen-Verdikt gerade in den Bergregionen viel Goodwill gekostet hat. Er wolle rasch weitere Öffnungen, wenn es die epidemiologische Lage erlaube, hatte Berset schon letzten Mittwoch immer wieder betont. Und bereits in der Konsultation hatte er Lockerungen für Kultur- und Sportveranstaltungen in Aussicht gestellt – mit einer Zuschauerobergrenze einer Ein-Drittel-Kapazitätsbeschränkung.
Diesen Ball nahmen die Sonntagsmedien auf: Gemäss «NZZ am Sonntag» wären drinnen maximal 300 und draussen 500 Zuschauerinnen und Zuschauer erlaubt. Und die «SonntagsZeitung» zitiert Bersets Kommunikationschef Peter Lauener: «Auch Grossveranstaltungen im Sommer sollen eine Perspektive erhalten.» Die Bevölkerung darf also auf weitere Lockerungen hoffen.