Das Gespenst ist zurück: Die Schweiz streitet wieder über eine institutionelle Annäherung an die Europäische Union. Am Freitag stellte Aussenminister Ignazio Cassis (62), beflügelt von seiner Wiederwahl am Mittwoch, den Entwurf für ein Verhandlungsmandat vor. Flankiert wurde er von Elisabeth Baume-Schneider (59), die ins Innendepartement wechselt, und Wirtschaftsminister Guy Parmelin (64).
Als der Bundesrat am 26. Mai 2021 das Rahmenabkommen mit der EU beerdigte, waren die Berner Euroturbos in Schockstarre verfallen. Seit Freitag haben sie das Momentum, wie es Neudeutsch heisst, wieder auf ihrer Seite.
70 bilaterale Treffen seien bis dahin nötig gewesen, sagte Cassis. Das Zauberwort heisst nun «Paketansatz»: Neue Abkommen in den Bereichen Strom, Lebensmittelsicherheit und Gesundheit werde es geben, frohlocken die Magistraten. Auch ein Abkommen zur Teilnahme an EU-Programmen gehört dazu.
Manna für Wirtschaft und Forschung regnet vom Himmel – lasset die Verhandlungen beginnen!
Was bezahlen wir dafür?
Aber wie hoch ist der politische Preis? Regelmässige Kohäsionsbeiträge an die EU gehören selbstverständlich dazu, vor allem aber eine sogenannte dynamische Rechtsübernahme: Einmal vereinbarte Regelungen werden sich ändern können, die Schweiz soll sie jedoch «eigenständig» übernehmen. Und im Streitfall? Soll ein «gemischter Ausschuss» entscheiden, an dem die Schweiz vertreten ist.
Nächste Instanz wäre ein sogenanntes paritätisches – also ausgewogenes – Schiedsgericht. Das berüchtigte Schlagwort der fremden Richter klingt noch immer nach; wird die Bevölkerung da mitmachen?
Ein weiterer heikler Punkt ist die Unionsbürgerrichtlinie. EU-Bürger, die mindestens fünf Jahre lang in der Schweiz tätig waren, sollen unbeschränkt Zugang zur Sozialhilfe erhalten. Nur wenn die Betreffenden «nicht mit der Arbeitsvermittlung kooperieren», dürfen hiesige Behörden die Notbremse ziehen.
Gewerkschaften sind kritisch
Dazu kommen Bedenken in puncto Lohnschutz. Gewerkschaftsboss und SP-Ständerat Pierre-Yves Maillard (55) verlangt im Blick-Interview bereits Nachbesserungen.
Kurzum: Es zeichnet sich ein neuer Europa-Showdown ab.
Zwar drängt eine mächtige Koalition aus Wirtschaft, Hochschulen und Kantonen auf Einigung – laut Cassis soll diese in weniger als zwei Jahren stehen. Verbände und Organisationen wie Progresuisse machen bereits für die «Bilateralen III» mobil. Und doch sind die alten Angriffsflächen wieder da.
Das Vorpreschen der Landesregierung haucht auch der Allianz Kompass/Europa wieder Leben ein. Während Aussenminister Ignazio Cassis seinem neuen Projekt bewusst keinen Namen gibt, um es politisch nicht zu belasten, nennt die Gruppe um Partners-Group-Gründer Alfred Gantner (55) das Vorhaben des Bundesrats geradeaus «Rahmenabkommen 2.0». Zur Erinnerung: Gantner und seine Organisation hatten bereits erfolgreich das erste Rahmenabkommen mit der EU bekämpft, das am 26. Mai 2021 versenkt wurde. Jetzt ist der politisch aktive Unternehmer erneut aktiv. «Die Architektur ist wieder dieselbe: dynamische Rechtsübernahme», sagt Gantner gegenüber Blick zum Lösungsvorschlag mit der Europäischen Union. Er lehne diese definierte Ausgangslage «fundamental ab» und sei überzeugt, «dass es wieder scheitern wird». Anders als vor drei Jahren allerdings will es die Truppe nicht bei blosser Verhinderung belassen. Gantner: «Man kann nicht immer nur Nein sagen, sondern muss eine neue rationale, erfolgsorientierte Richtung vorlegen.»
Entscheid an der Urne
Gantner & Co. planen eine Volksinitiative. «Wir werden mit einem neuen Weg ans Volk gelangen», bestätigt er.
Die Stossrichtung: Sektorielle Abkommen mit Brüssel unter Beibehaltung der Souveränität, wie von Kompass/Europa bereits mehrfach gefordert. Die Vorbereitungen stehen noch am Anfang. Kommende Woche wird sich die Spitze von Kompass/Europa mit der Agentur Farner treffen. Die Kommunikationsfirma stand Gantner beim Widerstand gegen das erste Rahmenabkommen beratend zur Seite.
Rückenwind erhalten die Europafreunde durch die Neubesetzung im Bundesrat: Anders als der Bremser Alain Berset (51) ist der gewählte SP-Kandidat Beat Jans (59) ein glühender Europafreund. Als Regierungspräsident des Grenzkantons Basel pochte Jans bei jeder Gelegenheit auf ein besseres Verhältnis mit Brüssel: «Wirtschaft und Forschung haben das dringend nötig». In einem «NZZ»-Interview vor seiner Wahl monierte er, dass der Bundesrat im Europadossier «mehr Führung hätte zeigen müssen». Und plädierte für eine intensivere Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und der EU.
Für die Landesregierung wird die Ausgangslage damit noch komplizierter: Gantner und seine Verbündeten finden mit ihrer Positionierung breiten Zuspruch – und sie verfügen über genügend Mittel für eine Kampagne. Der Bundesrat wird somit einen weiteren Abstimmungskampf führen müssen.
Auf Fundamentalwiderstand stösst Cassis erwartungsgemäss bei der SVP. Fraktionschef Thomas Aeschi (44) präsidiert neu die mächtige Wirtschaftskommission (WAK) im Nationalrat. Für die Sitzung vom 12. Februar hat er EDA-Vorsteher Cassis eingeladen, der zu den Themen Souveränität und Personenfreizügigkeit Red und Antwort stehen müssen wird.
Pikant: Die Nachhaltigkeits-Initiative der SVP, ein Frontalangriff auf die Freizügigkeit, ist nach Blick-Informationen auf Kurs. Die Parteistrategen rechnen damit, dass sie das Volksbegehren in der ersten Hälfte 2024 einreichen werden. Womit der Bundesrat seine Botschaft dazu voraussichtlich bis im Frühjahr 2025 dem Parlament unterbreiten muss. Und die absehbare Abstimmung über Cassis’ Rahmenabkommen 2.0 und die SVP-Initiative in etwa zeitgleich an der Urne auflaufen werden.
Spannend wird die Konstellation auch aus einem anderen Grund: Bis auf SVP-Mann Albert Rösti (56) stammen alle Mitglieder des neuen Bundesrats aus einem Grenzkanton und bringen biografisch viele Berührungspunkte zu Europa mit. Auch VBS-Chefin Viola Amherd (61) hat das Europa-Dossier für sich entdeckt.
Amherd will gestärktes Verhältnis
Sie macht es sogar zum zentralen Thema ihres Präsidialjahrs. Anders als Alain Berset, der von Afrika bis Kanada durch die Weltgeschichte jettete, wird Amherd 2024 europäische Länder besuchen.
Und egal, ob beim Amtsantrittsbesuch in Österreich, beim Weltwirtschaftsforum in Davos GR oder bei der Münchner Sicherheitskonferenz: Die Walliserin will für Europa «bella figura» machen. «Mit einem geordneten und gestärkten Verhältnis zur EU gewinnt unser Land an Handlungsspielraum und dadurch an Souveränität», sagte Amherd nach ihrer Wahl zur Bundespräsidentin.
Sie weiss: Die Verhandlungen mit Brüssel mögen technisch und kompliziert sein. Mit Charme und klugen Argumenten will Amherd die Schweiz stärker in Europa integrieren – die bestens gerüsteten Gegner warten.
Das Gespenst ist wieder zurück.