Auf den Knall folgte die Stille. Nachdem der Bundesrat am 26. Mai die Verhandlungen über das Rahmenabkommen mit der EU abrupt beendet hatte, war von den Bundesratsparteien in Sachen Europa lange nichts mehr zu hören. Einzig die SVP zelebrierte den Verhandlungsabbruch mit einer Reihe von Höhenfeuern.
Auch der Bundesrat hatte es mit einem Plan B nicht eilig. Aussenminister Ignazio Cassis (60) legte im August dar, dass eine «gemeinsame Definition der Flughöhe unserer geregelten Beziehungen» nicht vor 2024 zu erwarten sei. Mit anderen Worten: Eine europapolitische Strategie des Bundesrats dürfte erst in drei Jahren vorliegen.
Droht eine Stromlücke?
In diese Bundesberner Behäbigkeit platzte diese Woche die Nachricht, dass der Schweiz ab 2025 – unter ungünstigen Umständen – eine winterliche Stromlücke droht. Völlig unerwartet kommt diese Botschaft nicht. Dennoch hat sie die Folgen eines nicht zustande gekommenen Rahmenabkommens deutlicher gemacht als sämtliche Wehklagen betroffener Branchen zuvor.
Das bürgerliche Lager ist ratlos, wie das Verhältnis zur EU in Zukunft gestaltet werden soll.
Bundesrat muss handeln
Die FDP sieht in erster Linie den Gesamtbundesrat in der Pflicht. «Er muss analysieren, was am achtjährigen Verhandlungsprozess falsch war und warum die EU uns partout nicht verstehen will», sagt Ständerat Damian Müller (36). «Dann muss er neue Vorschläge machen.»
Es bringe nichts, wenn jede Partei medienwirksam irgendwelche Vorschläge mache, wie man das Verhältnis zur Union gestalten soll, findet Müller. «Dann haben wir das gleiche Durcheinander wie beim Rahmenabkommen.» Dem Vorwurf, sich damit aus der Verantwortung zu stehlen, widerspricht er mit Hinweis auf den «Drei-Säulen-Aktionsplan» der Partei, der unter anderem den Abschluss eines dritten bilateralen Pakets fordert, inklusive Stromabkommen.
Im Gegensatz zur FDP wirkt die Mitte-Partei seit dieser Woche geradezu aktionistisch. Präsident Gerhard Pfister (59) brachte im Interview mit der «Aargauer Zeitung» die Idee einer «Strom-Neat» auf, um bei der EU Goodwill zu schaffen: Die Schweiz solle die Hochspannungsleitungen von Basel nach Chiasso ausbauen und im Gegenzug einfordern, dass sie von der EU in Sachen Versorgungssicherheit «auf Augenhöhe» behandelt werde.
Stromabkommen scheint nötig zu sein
Nachfragen beim Netzwerkbetreiber Swissgrid zeigen aber, dass dies ein eher unrealistisches Szenario ist. Nicht nur, weil Italien und Deutschland ihrerseits Leitungen ausbauen müssten, damit eine Strom-Neat Sinn ergeben würde. Auch die Frist von bis zu 30 Jahren bis zur Inbetriebnahme neuer Hochspannungstrassees lässt sie als Verhandlungspfand kaum geeignet erscheinen.
Ähnlich wie die FDP spricht sich auch die Mitte dafür aus, die Blockade mit der EU sektoriell zu lösen. Sprich: ein Stromabkommen auszuhandeln, in dem auch die Frage der Streitbeilegung geregelt wird.
Das Problem: Die EU lehnte den Abschluss neuer Verträge bisher kategorisch ab, solange die institutionellen Fragen nicht geregelt sind. Unwahrscheinlich, dass Brüssel der Schweiz nun plötzlich entgegenkommt.
Ratlosigkeit bei bürgerlichen Parteien
Während sich im bürgerlichen Lager Rat- und Rastlosigkeit ausbreiten, sieht die SP die Zeit gekommen, ihre Reihen zu schliessen – nachdem sie mit ihrem Nein zum Rahmenabkommen einen Grossteil der eigenen Wählerschaft vor den Kopf gestossen hat.
Schon vor zwei Monaten richtete die SP mit ihren Schwesterparteien aus Deutschland, Österreich, Frankreich und Italien einen Aufruf an Bern und Brüssel. «Es ist das erste Mal, dass eine Schweizer Partei mit ihren Schwesterparteien in der Europapolitik eine gemeinsame Haltung entwickelt hat», hebt SP-Nationalrat Jon Pult (37) die Wichtigkeit dieser Erklärung hervor.
Unter seiner Leitung erarbeitet eine parteiinterne Arbeitsgruppe derzeit Vorschläge, wie die Blockade im Verhältnis zur EU gelöst werden soll. Konkrete Lösungen liegen noch nicht vor. Anfang 2022 will die Arbeitsgruppe ihre Ergebnisse der Parteispitze unterbreiten. Im Oktober soll sich dann die gesamte Partei damit befassen.
SP will wieder konstruktive Kraft werden
Während die SP in der Europafrage wieder als konstruktive Kraft ins Spiel kommen will, lässt sich dies von Aussenminister Cassis nicht behaupten. Detaillierte Vorschläge hat er bis jetzt nicht eingebracht. Dem Vernehmen nach schreckt aber auch der Gesamtbundesrat davor zurück, die EU-Fragen schon wieder auf den Tisch zu bringen.
Immerhin will Cassis demnächst Gespräche mit europapolitischen Akteuren im Inland führen, wie das EDA auf Anfrage bestätigt. In Planung sei ein erster Austausch über die Beziehungen Schweiz–EU mit Vertretern aus den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft, darunter die Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (Auns), die Gruppe Kompass/Europa sowie Swissuniversities.
Man könnte es auch anders ausdrücken: Bevor die Schweiz mit Europa spricht, will sie sich erst mal mit sich selbst unterhalten. Ob daraus eher ein harmonisches Konzert oder erneut eine Kakofonie resultiert, ist bislang offen.