EU-Poker im Wahljahr
Cassis träumt vom Durchbruch

Der Aussenminister verströmt Zuversicht, wenn es um Europa geht. Aber ist das berechtigt? Andere bremsen. Und der zuständige EU-Kommissar kommt im März in die Schweiz.
Publiziert: 22.01.2023 um 10:14 Uhr
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Aktualisiert: 23.01.2023 um 13:53 Uhr
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Technische Gespräche im Wochentakt: Aussenminister Ignazio Cassis.
Foto: keystone-sda.ch
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Reza RafiChefredaktor SonntagsBlick

Für den digitalisierten Zeitgeist hat Papier seinen Zauber verloren. Mit Ausnahme der Politik, wo alles an Bedeutung gewinnt, sobald es durch ein Druck-Erzeugnis verewigt wird: Was in einem Thesenpapier, in einem «White Paper» oder gar einem Geheimpapier steht, weckt automatisch Interesse.

Gestern verabschiedeten die FDP-Delegierten in Dübendorf ZH ein Positionspapier zur Wirtschaftspolitik. Aufschlussreich ist der Abschnitt zur Gretchenfrage der Nation, dem Verhältnis zur EU. Man wolle die «bilateralen Beziehungen weiterentwickeln», zumal ein diskriminierungsfreier Zugang zum Binnenmarkt und eine «geregelte Kooperation» mit Brüssel für das Land «essenziell» seien, heisst es darin.

Da hallt der 26. Mai 2021 nach, an dem der Bundesrat das Rahmenabkommen versenkte. Das Elaborat ist ein Dokument des taktischen Stillstands; den freisinnigen Strategen dürfte es am liebsten sein, wenn das Europadossier nicht vor den nationalen Wahlen im Herbst akut wird. Auch Parteipräsident Thierry Burkart (47) dürfte sich erinnern, dass 40 Prozent der FDP-Wähler 2014 Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative sagten. Die europäische Einbindung wird deshalb mit nur einem dürren Satz gewürdigt: «Die institutionellen Fragen sind mit einer themenspezifischen, sektoriellen Optik anzugehen.»

Im frappanten Gegensatz zu den Wortwolken im Positionspapier stand der Auftritt von Ignazio Cassis (61) am Parteitag: Mit trotzigem Optimismus berichtete der freisinnige Aussenminister von «Fortschritten» in den Gesprächen mit Brüssel; sie befänden sich im Schlussspurt. Der Tessiner drückt aufs Tempo.

Tatsächlich ist aus dem Umfeld des EDA-Vorstehers zu vernehmen, die technischen Gespräche fänden im Wochentakt statt und Staatssekretärin Livia Leu (62) wisse Positives von den Sondierungsgesprächen zu rapportieren.

Erteilt der Bundesrat bald ein EU-Verhandlungsmandat?

Rückenwind erhält Cassis von den Kantonen. Sie sind ein zentraler Akteur im ganzen Prozess. Die wichtigsten Streitpunkte – staatliche Beihilfen, Lohnschutz und Unionsbürgerrichtlinie – betreffen sie im Kern. Als Reaktion auf den 26. Mai 2021 gründete die Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) eigens ein Gremium, um Lösungen in diesen Bereichen zu finden: Der Europakommission gehören ein Dutzend Regierungsratsmitglieder an, präsidiert wird sie vom jurassischen Wirtschaftsdirektor Jacques Gerber (49, FDP). Die Gruppe arbeitet derzeit Grundlagenblätter zu den offenen Streitpunkten aus, die im März der Plenarversammlung der KdK vorgelegt werden sollen.

Der Kurs ist klar: Viele Kantone grenzen ans Ausland und wollen einen diskriminierungsfreien Zugang zum EU-Raum – ihre Europafreundlichkeit liegt deshalb höher als die der nationalen Politik. Parallel führt die KdK eine Konsultation bei den Regierungen durch. Mit dem Ziel, sich am 24. März auf eine gemeinsame Erklärung zu einigen.

Wie SonntagsBlick aus gut unterrichteten Quellen erfuhr, hat Ignazio Cassis auch schon gegenüber der KdK die Hoffnung kundgetan, dass der Bundesrat bald ein EU-Verhandlungsmandat erteilen könnte.

Auffällig ist allerdings, dass solche frohlockenden Töne stets aus dem gleichen Kreis von Cassis-Getreuen und Euroturbos stammen – es gehe nur noch um technische Details, heisst es jeweils, mit dem «vertikalen Ansatz» komme der Erfolg. Andere warnen vor Zweckoptimismus. «Das sind nur exploratorische Befunde», kommentiert ein FDP-Parlamentarier. «Der entscheidende Punkt ist die aussenpolitische Machbarkeit. Da fehlt bislang noch jeder Hinweis.»

Einig ist man sich einzig, dass Brüssel vorwärtsmachen will. Deadline ist der Frühsommer 2024, wenn mit den Europawahlen das Personal wechseln wird. Ein Fenster der Gelegenheit könnte sich am 15. März öffnen. Dann wird der für die Schweiz zuständige EU-Kommissar Maros Sefcovic (56) die Eidgenossenschaft besuchen. Anlass ist eine Einladung der Universität Freiburg. Wie SonntagsBlick erfahren hat, ist auch ein Gesprächsangebot in Bern hängig.

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