Wie glaubwürdig sind die Berichte über das Tauwetter in den bilateralen Beziehungen? Bis vor kurzem jedenfalls hat kaum jemand damit gerechnet, dass Chefunterhändlerin Livia Leu (61) aus den neuen Gesprächsrunden mehr als die bekannten Lippenbekenntnisse aus Brüssel nach Hause bringen könnte.
Im Umfeld des Aussendepartements bestätigt man die optimistischen Berichte: Bei wichtigen Streitpunkten wie Unionsbürgerrichtlinie und Lohnschutz habe die EU substanzielle Angebote gemacht, Differenzen gebe es noch auf Nebenschauplätzen. Ein Beispiel: Im Lohnschutz etwa sei die Frage offen, ob Spesen als Lohn verbucht werden können. Auch bei der Unionsbürgerrichtlinie, also dem Anspruch von EU-Bürgern auf Schweizer Sozialleistungen, hätten die Europäer Entgegenkommen signalisiert.
Für den EDA-Vorsteher Ignazio Cassis (61) wäre dies eine höchst willkommene, vielleicht sogar dringend notwendige Erfolgsmeldung.
Vertrauliches Treffen des «Sounding Boards»
Der Bundespräsident jedoch hat die Rechnung ohne den Wirt gemacht, und der Wirt heisst in diesem Fall Pierre-Yves Maillard (54). Der gestern wiedergewählte Waadtländer Gewerkschaftsboss und SP-Nationalrat verdirbt Cassis gerade gehörig die Laune. Schauplatz war eine Sitzung am Freitag, 18. November, an der die Mitglieder des sogenannten Sounding Boards zusammentrafen. Diesem «Klangkörper» gehören die Spitzen der Sozialpartner an, also der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerverbände, und zwar auf Präsidiumsebene.
Nun würde Cassis gerne die Ausbeute bewirtschaften, die ihm Staatssekretärin Leu beschert hat. Bevor er aber vom Gesamtbundesrat eine Mandatserteilung erhält und ins Parlament darf, stellte ihm das Siebnergremium zwei Bedingungen: Erstens muss Brüssel Bewegung zeigen. Zweitens müssen die Mitglieder des Sounding Boards grünes Licht geben.
Also unterrichtete der Tessiner die Teilnehmer des besagten Treffens unter höchster Geheimhaltung mündlich über die Fortschritte aus den Sondierungsgesprächen. Dem Vernehmen nach sollen Arbeitgeber- und Gewerbeverband den Daumen gehoben haben. Nur vom Präsidenten des Gewerkschaftsbundes sei ein schnödes Njet gekommen.
Streitpunkt Dynamisierung
Der hält sich auf Anfrage bedeckt und verweist auf die vereinbarte Diskretion. Gegenüber SonntagsBlick betont er einzig, man sei «noch weit entfernt von einer Lösung». Der Gewerkschaftsbund (SGB) stört sich vor allem an der Dynamisierung, einer nicht abzuschätzenden Weiterentwicklung des vereinbarten Rechts. Heute würde man die Katze im Sack kaufen, wird moniert, da man nicht voraussehe, in welche Richtung die Union die Lohnregulierung treibe.
FDP-Nationalrat und Aussenpolitiker Hans-Peter Portmann (59) widerspricht. Die Gewerkschaften würden die Öffentlichkeit «hinters Licht führen», zumal Maillard genau wisse, dass beide Seiten in den Sondierungsgesprächen der Dynamisierung in einem sogenannten «vertikalen Ansatz» zugestimmt hätten. SGB-Kreise indes verweisen auf 24 hängige Verfahren, welche die EU wegen allzu strikter Lohnschutz-Massnahmen gegen ihre Mitgliedstaaten führt.
Für Cassis ist Maillards Bremsmanöver innenpolitisch verheerend. Eine Erfolgsmeldung plus Verhandlungsmandat wären so kurz vor den Bundesratswahlen der ersehnte Befreiungsschlag. Die Bahn wäre frei gewesen, das Departement sauber einem Nachfolger oder einer Nachfolgerin zu übergeben. So aber wird er im Europadossier weiter bis ins Wahljahr hinein wursteln müssen, und die Gewerkschaften können ihre Position weiter halten, wie sie es schon beim Rahmenabkommen taten.
FDP-Portmann kritisiert «Blockade-Haltung»
Vor allem deshalb fragt man sich im Cassis-Lager, ob Maillards Vorgehen nicht auch Taktik in eigener Sache sein könnte: Will Maillard Bundesrat werden, müsse er verhindern, dass Genosse Alain Berset (50) noch weitere acht Jahre ausharrt. Also sabotiert er einen Etappensieg für Cassis, womit die Chance steigt, dass dieser weiter im EDA bleibt.
Bleibt das EDA besetzt, fällt für Berset diese Option weg. Damit sinkt die Wahrscheinlichkeit eines Departementswechsels von Berset – die Finanzen wird ihm die bürgerliche Mehrheit in der Regierung kaum gönnen. Und dass der Freiburger weitere acht Jahre Gesundheitsminister sein will, darf bezweifelt werden.
FDP-Portmann sagt zu einem Bundesrat Maillard: «Beide SP-Kandidatinnen sind gut qualifiziert. Aber will man Maillard für den Schaden, den er durch seine Blockadehaltung im EU-Dossier unserem Land angerichtet hat, in einem Jahr nicht noch mit einem Bundesratsjöbli belohnen, wählt man jetzt Elisabeth Baume-Schneider.» So wären nämlich drei Romands in der Regierung.
Die EU will Tempo, Cassis braucht Maillard
Es wird derzeit viel spekuliert. Fakt ist, dass SGB-Präsident Maillard den EDA-Vorsteher in Geiselhaft genommen hat. Cassis ist auf den Gewerkschafter angewiesen. Denn die EU will Tempo. Man gewähre noch ein, zwei Gesprächsrunden, ehe man verhandle, heisst es.
Im März 2024 sind Europawahlen, dann wird ein Grossteil des politischen Personals ausgewechselt. Kommissionsvize Maros Sefcovic (56) will den Streit mit der Schweiz, der in dessen Zuständigkeit fällt, vorher beigelegt haben, weshalb er die Paraphierung einer Übereinkunft bis spätestens Dezember 2023 anstrebt.
Womit wir wieder in der schweizerischen Innenpolitik angelangt sind: Brüssel macht von diesen Fortschritten eine Teilnahme von Schweizer Wissenschaftlern und ihren Universitäten an den europäischen Forschungsprogrammen abhängig.
Also ein weiteres Pfand in der Hand des Waadtländers. Affaire à suivre.