Es war lange eines der bestgehüteten Geheimnisse in Bundesbern: das Verhandlungsmandat für das institutionelle Rahmenabkommen mit der EU – das Aufgabenheft für die Schweizer Unterhändlerin Livia Leu Agosti also, die sich damit in Brüssel die Zähne ausbiss.
Erst am 26. April legte Bundesrat Ignazio Cassis gegenüber den Aussenpolitischen Kommissionen von National- und Ständerat die Karten auf den Tisch. Die Parlamentarier erhielten Einsicht in die Passage zu den drei strittigen Themen Subventionen, Lohnschutz und Unionsbürgerrichtlinie. Für alle anderen blieb das am 11. November 2020 verabschiedete Mandat weiterhin unter Verschluss.
Vier Punkte für geforderte Klärungen
SonntagsBlick liegt jetzt das dreiseitige Dokument mit dem Kapitel über die ungeklärten Punkte vor. Aus dem Papier, das die Verwaltung am 23. April aufbereitet hatte, ist erstmals im Detail ersichtlich, wie der Bundesrat seine Ziele gegenüber den eigenen Diplomaten formuliert und gewichtet hatte. Die geforderten Klärungen sind in vier Punkte aufgeteilt:
Erstens darf die Regelung über die staatlichen Beihilfen den Freihandel mit Europa nicht beeinträchtigen.
Zweitens muss das heutige Überwachungssystem gegen Lohndumping mit Beteiligung von Arbeitnehmern und -gebern unangetastet bleiben.
Drittens soll der Lohnschutz vor der europäischen Rechtsprechung geschützt werden.
Viertens muss die Unionsbürgerrichtlinie (UBRL) ausdrücklich vom Rahmenvertrag ausgeschlossen bleiben.
Bemerkenswert daran ist eine bisher kaum beachtete Nuance seitens des Bundes: Eine Anerkennung der Richtlinie wird keineswegs generell ausgeschlossen. Man nimmt in den internen Verhandlungszielen eine – so wörtlich – «allfällige Übernahme» der UBRL durchaus in Kauf, sofern sie auf die Freizügigkeit von Angestellten und ihrer Familien beschränkt ist.
Sieben Ausnahmen bei der Unionsbürgerschaft
Die angestrebten Präzisierungen wollte die Landesregierung mittels 18 grösseren und kleineren «Lösungsansätzen» erreichen – wobei es sich de facto nicht um Kompromissansätze im Sinne eines «give and take» handelt, sondern um Forderungen. Andere sagen: um Maximalforderungen.
Bei der hoch umstrittenen Unionsbürgerrichtlinie, die den Zugang von EU-Bürgern zum Schweizer Sozialsystem erleichtern würde, besteht der Bundesrat auf sieben Ausnahmen – dazu gehört zum Beispiel, dass die rechtliche Besserstellung von Arbeitslosen, Entlassenen und Stellensuchenden aus dem EU-Raum zu verhindern sei.
Grosse Rücksicht auf die Gewerkschaften
Beim Lohnschutz verlangt der Bundesrat unter anderem eine Garantie, dass an der Schweizer Spesenregelung festgehalten wird. Den Gewerkschaften kommt er in seinem Forderungskatalog deutlich entgegen:
So sollte die heutige Praxis, dass die Sozialpartner Lohndumping sanktionieren dürfen, im Rahmenabkommen «explizit» genannt werden, «auch wenn diese von der EU bereits im einschlägigen EU-Recht vorgesehen sind», wie die Regierung in dem Papier einräumt.
Bekannt sind darüber hinaus etwa die Forderung einer «eigenständigen Festlegung der Kontrolldichte mit Risikobasierung durch die Schweiz» sowie die Voranmeldefrist von vier Arbeitstagen bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen, die für alle Branchen gelten soll, nicht nur für «Risikobranchen», wie es im Abkommensentwurf heisst.
Verhandlungen als «Mission impossible»
Um Transparenz zu schaffen, schaltet SonntagsBlick eine Wortlaut-Abschrift des Mandats online.
Das Papier entlastet zum einen den Bundesrat vom Vorwurf der EU, keine eigenen Vorschläge gemacht zu haben.
Andererseits werden die im Bundeshaus zirkulierenden Gerüchte bestätigt, dass Livia Leu Agosti, die als erfahrene und geschickte Diplomatin gilt, ein allzu ambitiöses Wunschprogramm auferlegt wurde. Leu Agostis «marge de manœuvre» ist im streng regelbasierten Mandat laut Kritikern zu klein gehalten, um Verhandlungsfortschitte erzielen zu können.
Bereits im März redete eine bundesratsnahe Quelle gegenüber SonntagsBlick von einer «Mission impossible».