Aussenminister Cassis versucht den Befreiungsschlag
Wie neutral ist die Schweiz?

Der EDA-Chef steht im Ukraine-Krieg unter Druck. Die SVP kritisiert die Russland-Sanktionen, das Ausland rätselt über die Rolle der Eidgenossen. Ein neuer Bericht soll die Neutralitätsfrage klären.
Publiziert: 20.03.2022 um 01:04 Uhr
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Aktualisiert: 20.03.2022 um 13:26 Uhr
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16. Juni 2021: Ausseniminister Cassis empfängt in Genf seinen russischen Amtskollegen Sergei Lawrow.
Foto: Keystone
Reza Rafi

So hat sich Ignazio Cassis (60) das Präsidialjahr nicht vorgestellt.

Normalerweise gilt sein Aussendepartement als Hochglanzabteilung des Bundes. Beziehungspflege, Staatsempfänge und Verhandlungskrimis gehören zum Auftrag.

Seit dem 24. Februar aber fallen in Europa Bomben auf Zivilisten. Der Ukraine-Krieg hat das EDA in Turbulenzen gestürzt. Schadensbegrenzung ist angesagt. International stand die Schweiz plötzlich als Oligarchenparadies am Pranger, zugleich gibt es weltweit Missverständnisse über die schweizerische Neutralität. Innenpolitisch muss sich der Aussenminister gegen Kritik der SVP wehren, die dem Bundesrat die Russland-Sanktionen vorhält. Und am Horizont schimmert die umstrittene Kandidatur für den Uno-Sicherheitsrat.

Jetzt will Cassis Klarheit schaffen: Er hat diese Woche seine Verwaltung beauftragt, einen Bericht zur Thematik zu verfassen.

Bericht soll vor dem Sommer stehen

Ein EDA-Sprecher bestätigt die SonntagsBlick-Recherchen: «Bundespräsident Ignazio Cassis hat seinem Departement den Auftrag erteilt, einen Neutralitätsbericht zu verfassen. Das Dokument soll vor dem Sommer fertiggestellt werden.» Federführend ist die Direktion für Völkerrecht. Das Papier soll gemäss Departement «zu einem besseren Verständnis der Neutralität im aktuellen Kontext beitragen» und ist auch als Ergänzung zur Broschüre des EDA vom 3. März gedacht. Der letzte Neutralitätsbericht des Gesamtbundesrats liegt drei Jahrzehnte zurück.

Ob der Magistrat damit die Wogen glätten kann? Sicher ist nur, dass das Thema Einmischung in fremde Händel politisch so brisant ist wie lange nicht mehr. Prägend war jene viel zitierte Medienkonferenz bei Kriegsbeginn («Heute ist ein trauriger Tag»), als Cassis die Nicht-Anwendung der EU-Sanktionen gegen Moskau begründete – und dann verschwand.

Plötzlich stand die Schweiz im globalen Gegenwind. Empörte Missionsleiter wandten sich per Mail direkt an den Departementsvorsteher. Vier Tage später kippte die Landesregierung – was international erneut für Verwirrung sorgte. Botschafter Jacques Pitteloud (59) muss im amerikanischen Fernsehen erklären, wieso sein Land die Neutralität ungeachtet der Sanktionen nicht geopfert habe.

Der missglückte Auftritt vom 24. Februar trägt indes nicht die Handschrift des Aussenministers allein – neben dem Staatssekretariat für Wirtschaft Seco, das für die Sanktionen zuständig ist, waren auch zwei von Cassis’ Topleuten mitverantwortlich: EU-Unterhändlerin Livia Leu Agosti (61) und Johannes Matyassy (64), Chef der Konsularischen Direktion. «Man hat sich zu sehr ins Technische verbissen», klagt ein EDA-Mitarbeiter, «die grosse Message fehlte».

Blochers Kesseltreiben gegen die Regierung

Nur eine Woche vor dem Malheur hatte Matyassy an der Seite der freigelassenen schweizerisch-belarussischen Doppelbürgerin Natallia Hersche (52) angeregt Interviews gegeben. Der Glanz dieser diplomatischen Sternstunde war rasch vergessen. Die Öffentlichkeit ist gnadenlos.

Zu all dem Unheil hat der Departementsvorsteher nun auch noch Christoph Blocher (81) an der Backe. Seit Anwendung der Sanktionen führt der SVP-Patron mit seiner Partei ein Kesseltreiben gegen die Regierung. Die wirtschaftlichen Schritte gegen Russland werden zum neutralitätspolitischen Sündenfall stilisiert, der Bundesrat als Grabesträger der Guten Dienste gebrandmarkt. Blocher erklärt mit beachtlicher Kreativität nicht etwa Putins Angriffskrieg zur historischen Zäsur, sondern die Schweizer Sanktionen gegen den Kreml und seine Häscher – in grosszügiger Verkennung des Umstands, dass Bundesbern in der Vergangenheit mit aller Selbstverständlichkeit Massnahmen gegen Staaten wie Belarus, Venezuela oder den Iran mitgetragen hat.

Blochers Polemik gipfelt in der Aussage, wonach die Eidgenossenschaft mit ihren Sanktionen nun «Kriegspartei» sei.

Angesichts von Moskaus verheerendem Völkerrechtsbruch scheint die Frage angebracht, ob das Gegenteil der Fall ist, ob es sich also nicht eher um Parteinahme handelt, wenn die Alpenrepublik den russischen Kriegsverbrechern als finanzieller Rückzugsort dienen würde.

Unruhe im Diplomatenkorps

Doch so etwas geht im Getöse unter, wie auch die Sicht der Profis: So wird von Präsentationen über die Guten Dienste für Schulungszwecke berichtet, die innerhalb des EDA kursieren – und der SVP diametral widersprechen: Neutralität sei demnach keine Bedingung, um Gute Dienste zu leisten, diese wiederum dürften «kein Feigenblatt» sein. Tatsächlich ist im hart umkämpften Vermittler-Markt der keineswegs neutrale Nato-Staat Norwegen äusserst erfolgreich, und als einer der wichtigsten Mediatoren gelten die USA.

Im Diplomatenkorps herrscht ohnehin Unruhe. Mitarbeiter monieren gegenüber SonntagsBlick, der Chef würde medienwirksam mit Gesprächsangeboten «hausieren» und die diskreteren, aber umso effektiveren Seiten der Guten Dienste vernachlässigen. Dabei verfüge die Schweiz etwa über exzellente Mediatoren, über Kompetenzen im Bereich der Fazilitation, also der Ermöglichung von Kontakten zwischen Kriegsteilnehmern, und über ausgewiesene Experten für Waffenstillstand. «Doch die Departementsleitung interessiert sich mehr für die grosse Konferenz in Genf», sagt ein EDA-Funktionär.

Cassis’ Umfeld streitet diese Darstellung ab. Die Ausrichtung von Gesprächen gehöre wie alle anderen Aspekte zum komplexen Bereich der Guten Dienste, für die man sich einsetze.

Das diplomatische «Hotelier»-Geschäft birgt Risiken: Eben hat Recep Tayyip Erdogan (68) Wladimir Putin (69) und Wolodimir Selenski (44) zu Gesprächen eingeladen.

Die «unmögliche Kunst der Neutralität»

Ob die beiden Kriegsgegner zusagen, ist offen. Immerhin kamen vorletzte Woche bereits zwei Delegationen in Antalya zusammen. Gleichzeitig hatte der russische Aussenminister Sergei Lawrow (71) in einem TV-Interview über Berns Vermittlungsangebot geplaudert. Der türkische Präsident gilt plötzlich als möglicher Friedensbringer und stellt die Schweiz in den Schatten.

Über der Debatte hängt die uralte Frage, wie Neutralität definiert wird.

1962 schrieb der schweizerisch-britische Autor Jon Kimche (1909–1994) in seinem Buch über Henri Guisan (1874–1960) ein Kapitel über die «unmögliche Kunst der Neutralität». Er zitiert den General, wonach Neutralität «keine höhere Lebensform» sei, sondern «eine aussenpolitische Linie, die sich im Laufe der Jahre ändert und sich den Erfordernissen der Zeit und den wechselnden Bedürfnissen anpassen muss».

Ignazio Cassis hat nun das Privileg, diese Geschichte weiterzuschreiben.

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