Am 26. Mai beendete der Bundesrat die Verhandlungen über ein Rahmenabkommen mit der EU. Tragfähige Alternativen aber bleibt die Regierung noch immer schuldig. Eine Ratlosigkeit, die so überhaupt nicht neu ist in der Europapolitik, die scheinbar ewig hin- und herschaukelt zwischen –europäischem Wunschdenken und der Furcht vor der heimatlichen – Abstimmungsurne.
Den Anfang des Schweizer Wegs markiert der gescheiterte Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Dieses magistrale Fiasko besiegelte den Aufstieg der SVP und prägt das Sag- und Machbare in der Schweizer Politik bis heute. Ein wichtiges Kapitel dieser Geschichte lässt sich nun endlich detailliert nachzeichnen. Selbst die verfrühte Ankündigung der Bundesräte Felber und Delamuraz im Herbst 1991, wonach die Schweiz sich aufmache, der damaligen Europäischen Gemeinschaft beizutreten, erscheint in einem – anderen Licht.
Glühender Europäer Flavio Cotti wurde Bundespräsident
Pünktlich zum Jahreswechsel hat die Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis) Sitzungsprotokolle des Bundesrates von 1991 und zahlreiche weitere Akten nach Ablauf einer 30-jährigen Sperrfrist zugänglich gemacht. Die wichtige Publikation zeigt, dass sich der Bundesrat damals an den gleichen Fragen aufrieb, die seine Erben noch immer verfolgen.
Kommentar
Als es mit dem Kommunismus in Europa zu Ende ging, wählte das Parlament den glühenden Europäer Flavio Cotti zum Bundespräsidenten. Und der Vorsteher des Innendepartements meldete schon Anfang 1991 seinen Gestaltungswillen in der Europapolitik an.
Damit griff er in die Domäne zweier Romands ein, die das Dossier bislang fest in Händen gehalten hatten. Wirtschaftsminister Jean-Pascal Delamuraz und Aussenminister René Felber waren dabei, den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) auszuhandeln.
Die Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis) ist ein Institut der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften und betreibt Grundlagenforschung zur Zeitgeschichte der Schweiz.
Am 1. Januar, genau nach Ablauf der 30-jährigen Schutzfrist, veröffentlichte Dodis eine Auswahl der Akten zur Schweizer Aussenpolitik im Jahre 1991.
Die neu zugänglichen Dokumente zeigen insbesondere den dramatischen Abschluss der Verhandlungen des EWR-Vertrags. Alle Unterlagen sind online einsehbar: dodis.ch/dds-1991
Die Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis) ist ein Institut der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften und betreibt Grundlagenforschung zur Zeitgeschichte der Schweiz.
Am 1. Januar, genau nach Ablauf der 30-jährigen Schutzfrist, veröffentlichte Dodis eine Auswahl der Akten zur Schweizer Aussenpolitik im Jahre 1991.
Die neu zugänglichen Dokumente zeigen insbesondere den dramatischen Abschluss der Verhandlungen des EWR-Vertrags. Alle Unterlagen sind online einsehbar: dodis.ch/dds-1991
«Ununterbrochene Folge von Enttäuschungen»
Die EWR-Verhandlungen verliefen harzig, die Kompromissbereitschaft der EG war gering. Bern und Brüssel stritten endlos über die Gerichtsbarkeit und die Regeln für die Personenfreizügigkeit.
Darin mischte sich auf Schweizer Seite bald die Angst, bei der historischen Einigung Europas abseits zu stehen. Bei einem Alleingang hätte das Land alles zu verlieren, raunte Delamuraz im Frühling 1991 seinen Kollegen zu.
Doch im März schrieb Cotti an Kollega Delamuraz, dass sich die Gespräche, in die man mit so viel Hoffnung und Engagement gestiegen sei, als eine «ununterbrochene Folge von Enttäuschungen erwiesen» hätten. Es stelle sich die Frage, «ob es nicht besser wäre, die EWR-Verhandlungen so schnell wie möglich abzubrechen». Die Chancen auf eine Mehrheit im Volk scheine ihm gering. 20 Monate vor der EWR-Abstimmung nahm Cotti die Niederlage vorweg.
EG-Beitritt wurde zur fixen Idee
Unsichere Mehrheitsverhältnisse zu Hause, unnachgiebige Verhandlungspartner in Europa – der Bundesrat hatte sich in eine Sackgasse manövriert. Zugleich formierte sich in der Regierung eine Mehrheit, die eine EG-Vollmitgliedschaft anstrebte.
Zwar geisselte der SP-Magistrat Otto Stich die EG als «noch zu zentralistisch und zu undemokratisch». Doch solch kritische Bewertungen sind rar in den Protokollen von 1991. Der EG-Beitritt verfestigte sich zur fixen Idee, je schwieriger sich die EWR-Verhandlungen gestalteten.
«Die Meinungen zu den Optionen EWR, EG-Beitritt oder Alleingang lagen im Bundesrat derart weit auseinander, dass der Kompromiss darin bestand, das Fuder zu überladen», sagt der Direktor von Dodis, Sacha Zala. «Damit waren alle zufrieden, denn am Ende des Tages würde das Volk entscheiden.»
Schwindende Unterstützung für EWR-Beitritt
Die unmittelbaren Schwierigkeiten löste das nicht. Während Felber und Delamuraz am EWR als Zwischenetappe auf dem Weg zum EG-Beitritt festhielten, wuchsen bei ihren Kollegen die Zweifel.
An der Bundesratssitzung vom 17. April 1991 sezierten die Departementsvorsteher der Reihe nach die Verhandlungen. Bundesrat Arnold Koller warnte, dass immer weniger Kreise hinter dem EWR stünden. «In der Öffentlichkeit ist der Eindruck entstanden, dass sich die Schweiz tranchenweise abschlachten lässt.»
Auch Bundesrat Kaspar Villiger, Vorsteher des Militärdepartements, warnte: «Die EG hat die Schweiz an die Wand gedrückt und stellt stets neue Forderungen. Wir bewegen uns auf dem Weg eines Kolonialstaates mit Autonomiestatut.» Die SVP operiert bis zum heutigen Tag mit ähnlichen Begriffen.
Zunehmende Spannungen zwischen Delamuraz und Cotti
Der EWR halte für die Schweiz eine Reihe von Vorteilen bereit, gab Delamuraz zurück. Ja, «selbst ein schlechter Vertrag wäre geeignet, uns in eine bessere Position zu bringen». Der Bundesrat quälte sich weiter. Die Spannungen, namentlich zwischen Cotti und Delamuraz, nahmen zu.
Der Bundespräsident fasste seine Bedenken Anfang August erneut in einem Brief an Delamuraz zusammen. «Wenn ein Schweizer die Folgen einer Entscheidung zu spüren bekommt, will er ein volles Mitspracherecht haben. Dies ist das Grundprinzip unserer Demokratie, und der EWR respektiert es nicht.»
Im Verlaufe des Sommers beschloss Cotti, seine Bedenken öffentlich zu machen. Dazu wählte er ausgerechnet den «Europatag», der am 7. September 1991 in Sils-Maria GR als Teil der Feierlichkeiten zum 700-jährigen Bestehen der Eidgenossenschaft über die Bühne ging. Vor dem Gesamtbundesrat und Hunderten von Gästen setzte Cotti im Engadin zu seiner Grundsatzrede an.
Vollmacht zur Vertragsunterzeichnung
Die tagespolitische Aktualität berührte er nur am Rande, hielt aber fest, dass die Zustimmung zum EWR abzunehmen scheine. Delamuraz tobte. Einem gemeinsamen Dinner blieb der Waadtländer fern. Cotti habe nur die schlechten Punkte des EWR aufgezählt und die Verhandlungen erschwert, warf er dem Bundespräsidenten Tage später vor.
Er setzte sich durch. Am Nachmittag des 19. Oktobers beschloss der Bundesrat an einer Klausur in Gerzensee, Felber und Delamuraz an die letzte Verhandlungsrunde zu schicken, ausgestattet mit der Vollmacht, den EWR-Vertrag zu unterzeichnen.
Dass sich dagegen kein grösserer Widerstand regte, lag daran, dass der Bundesrat sich den grossen Wurf zu unternehmen getraute.
Beitrittsgesuch zur Europäischen Gemeinschaft
Im Stillen und einvernehmlich beschloss er in Gerzensee den Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft. Delamuraz und Felber sollten dies ruhig verkünden.
Bislang galt der Mai 1992 als Moment der Wahrheit, als sich eine knappe Mehrheit des Bundesrates für ein offizielles Beitrittsgesuch aussprach. Angesichts des Sitzungsprotokolls der Klausur von Gerzensee gleicht dies einer Vollzugsmeldung.
In den frühen Morgenstunden des 22. Oktobers 1991 einigten sich die Schweiz und die EG schliesslich auf den endgültigen Wortlaut des EWR-Vertrages. An der Pressekonferenz in Luxemburg erklärte Felber sogleich, dass die Eidgenossenschaft ein Beitrittsgesuch zur EG einreichen werde, wenn das sich Volk für den Vertrag ausgesprochen habe.
Felbers Ansage wurde seither verschieden gedeutet. «Man muss wirklich von allen guten Geistern verlassen sein, solch einen politischen Fehler zu begehen», urteilte Chefunterhändler Franz Blankart über den Luxemburger Auftritt rückblickend.
Jetzt lässt sich zeigen, Felbers Äusserung war mehr als eine flapsige Bemerkung eines europhilen SPlers. Kein Schnitzer eines einzelnen Ministers, sondern das erklärte Ziel der gesamten Regierung. Die Auns und Christoph Blocher tauchten in dieser Kalkulation allenfalls am Rande auf.
Ein gutes Jahr und eine Abstimmung später lag die bundesrätliche Europa-Strategie in Trümmern.