Livia Leu (60) ist nicht zu beneiden. Erst liess die EU die neue Schweizer Chefunterhändlerin wochenlang auf einen Termin für ein Treffen warten. Als Leu diesen Donnerstag dann endlich mit ihrer Brüsseler Ansprechpartnerin zusammenkam, hatte sich der Fokus der Debatte im Inland längst verschoben. Inzwischen stehen nicht mehr jene drei Punkte – Lohnschutz, Unionsbürgerrichtlinie, staatliche Beihilfen – im Zentrum, auf die sich der Bundesrat bisher fokussiert hatte. Stattdessen dreht sich die Diskussion wieder um die viel grundsätzlichere Frage: jene der Souveränität.
Die Schweizer Eigenständigkeit sei durch das institutionelle Abkommen (Insta) gefährdet, argumentierte Hans-Jörg Bertschi von der Logistikfirma Bertschi Group bereits im November. Der Aargauer ist Co-Präsident des neu gegründeten Komitees Autonomiesuisse; ein Zusammenschluss von bürgerlichen Unternehmern, die sich gegen den Vertrag mit der EU aussprechen. Konkret stört sich das Komitee am Einbezug des Europäischen Gerichtshofs bei der Auslegung von EU-Recht und an der dynamischen Rechtsübernahme.
Das Rahmenabkommen sei «ein total einseitiger Vertrag»
Bereits die Gründung von Autonomiesuisse machte deutlich, dass sich die Wirtschaft in der Beurteilung des Rahmenabkommens nicht so einig ist, wie das bisher den Anschein hatte. Richtig in Fahrt gekommen ist die Debatte aber in den vergangenen zwei Wochen, vor dem Hintergrund des Brexit-Abkommens. Die Gegner haben das Momentum, das sich aus dieser Einigung ergab, geschickt genutzt, um sich und ihre Argumente ins Spiel zu bringen.
Da ist einerseits die Allianz Kompass/Europa, hinter der die drei schwerreichen Unternehmer Alfred Gantner (52), Urs Wietlisbach (59) und Marcel Erni (55) der Zuger Firma Partners Group stehen. Das Rahmenabkommen sei «ein total einseitiger Vertrag», mit dem sich die Schweiz verpflichte, «einseitig EU-Recht zu übernehmen», sagte Gantner der «SonntagsZeitung» und kündigte an, das Abkommen fortan entschieden zu bekämpfen. Wobei sich Gantner und seine Kollegen nicht lumpen lassen: Alleine in die Anschubfinanzierung haben sie gegen eine halbe Million Franken investiert.
Insta-Gegner haben kaum Vorschläge
Ins Gespräch brachte sich vergangene Woche auch FDP-Politiker Thierry Burkart (45). Das Insta beschneide die Souveränität der Schweiz, schrieb er und forderte einen Abbruch der Verhandlungen. Burkarts Meinungsbeitrag in der «Aargauer Zeitung» verärgerte einerseits seine Parteikollegen, die sich in ihrer Mehrheit für ein «Ja aus Vernunft» zum Rahmenabkommen ausgesprochen haben. Andererseits kommt das Manöver des Aargauers einem Affront gegenüber dem eigenen Bundesrat gleich, Aussenminister Ignazio Cassis (59).
Neu sind die Argumente der Gegner keineswegs. Die SVP sprach in Bezug auf den Europäischen Gerichtshof (EuGH) schon immer gerne von «fremden Richtern». Auch CVP-Präsident Gerhard Pfister warf dem Bundesrat vor, das Problem des Insta nicht beim Namen nennen zu wollen: «die Souveränität». Nicht zuletzt befürchten die Gewerkschaften, die Rechtsprechung durch den EuGH stelle eine Bedrohung für den Schweizer Lohnschutz dar.
Insofern kommt die neuerliche Souveränitätsdebatte einer weiteren Runde im Schattenboxen gleich – zumal die Insta-Gegner kaum Vorschläge zur Hand haben, wie sich das Verhältnis zur EU für beide Seiten zufriedenstellend ausgestalten liesse. Stattdessen dreht sich die Debatte innenpolitisch im Kreis, während der Standpunkt der EU grosszügig ausgeblendet wird.
Gegner des Abkommens verschweigen Nachteile
Konsequenzen dürfte das Auftauchen von Autonomiesuisse und Kompass/Europa dennoch haben. Denn sowohl der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse wie die FDP – die beide für sich in Anspruch nehmen, «die Wirtschaft» zu vertreten – müssen feststellen, dass diese keineswegs geeint hinter dem Abkommen steht. Zumal neben den neuen Komitees seit jeher auch der Gewerbeverband die Rolle des EuGH kritisiert.
Dass das Rahmenabkommen gegenwärtig unter Druck ist, räumt auch Jan Atteslander ein, Leiter Aussenwirtschaft bei Economiesuisse. «Die Mitglieder des Dachverbands haben beschlossen, vor einer Stellungnahme zum Insta erst das Resultat der Klärungen abzuwarten», erklärt der Verbandsmann. Man müsse in der Europapolitik nun Kurs halten.
Er stört sich insbesondere daran, dass die Gegner des Abkommens die Nachteile verschwiegen, die ein Abbruch der Verhandlungen mit sich bringen würde. «Wir riskieren die Fortsetzung des heutigen bilateralen Wegs und damit den Verlust an Konkurrenzfähigkeit», so Atteslander. Dies mache das Beispiel der Medtech-Branche deutlich. «Ab dem 26. Mai werden diese Unternehmen wegen der fehlenden Unterschrift unter dem Rahmenabkommen Nachteile auf dem europäischen Markt haben.»
Auch der FDP kommt der parteiinterne Meinungsstreit ungelegen: Je heftiger der Gegenwind aus den eigenen Reihen, desto schlechter steht Bundesrat Cassis da. Dies könnte für den Tessiner nach den Wahlen 2023 handfeste Konsequenzen haben, denn der Machtkampf um die Neuverteilung der Bundesratssitze ist längst im Gang. Cassis’ Pech: Parteikollegin Karin Keller-Sutter (57) sitzt fest im Sattel. Er selber gilt dagegen als Wackelkandidat.