Zeit und Ort sind schlecht gewählt. Es ist der 22. Oktober 1991 um drei Uhr morgens in einem Gebäude der Europäischen Gemeinschaft in Luxemburg. Nach einer letzten Verhandlungsrunde mit den Repräsentanten der EG treten die Bundesräte Jean-Pascal Delamuraz und René Felber vor die Presse und erklären: Die Schweiz sei bereit, sich dem Europäischen Wirtschaftsraum anzuschliessen – der EWR sei jedoch nur eine Etappe auf dem Weg zur EG-Vollmitgliedschaft. Im Mai des folgenden Jahres sendet die Landesregierung das entsprechende Aufnahmegesuch nach Brüssel. Weitere sieben Monate später, am 6. Dezember 1992, sagen dann aber 50,3 Prozent der Stimmenden Nein zum EWR. Der europapolitische Frühling ist vorbei.
Bislang herrschte in der Öffentlichkeit der Glaube, der Bundesrat habe sich in einem Anflug von Leichtsinn dazu hinreissen lassen, die Schweiz nicht nur in den EWR, sondern gleich auch in die heutige EU führen zu wollen. Es wurde sogar kolportiert, Wirtschaftsminister Delamuraz (FDP) und Aussenminister Felber (SP) hätten schlicht zu viel Alkohol intus gehabt, als sie in aller Herrgottsfrühe fern von Bern die Beitritts-Bombe platzen liessen.
Nun endlich wissen wir es besser. Nach Ablauf der 30-jährigen Sperrfrist sind die Verhandlungsprotokolle der Landesregierung für jedermann einsehbar. Diese Dokumente zeigen: Die EG-Option war im Siebnergremium über lange Zeit herangereift. Und wurde dort oppositionslos beschlossen.
Drei Tage vor dem Luxemburger Coup hatte der Gesamtbundesrat grünes Licht gegeben. Im Protokoll der Sitzung vom 19. Oktober 1991 heisst es: «Nach dieser neuen Generaldebatte beschliesst der Rat einvernehmlich und ohne Abstimmung, dem EWR-Vertrag zuzustimmen und die Herren Delamuraz und Felber zu ermächtigen, offiziell bekannt zu geben, dass sich der Bundesrat das Ziel des Beitritts der Schweiz zur EG gesetzt hat.»
Ja, es stimmt: Arnold Koller (CVP), Otto Stich (SP) und Kaspar Villiger (FDP) waren keine EG-Enthusiasten. Die drei Magistraten liessen ihre Vorbehalte gegen diese supranationale Organisation nach aussen gerne durchblicken. Doch als es darauf ankam, trugen sie das Ja zur EG-Zugehörigkeit mit.
Warum muss uns diese alte Geschichte im Jahr 2022 interessieren?
Zur Debatte über den EWR gehörte alles, was unserer Landesregierung heute noch Kopfschmerzen bereitet. Zum Beispiel die Angst vor Souveränitätsverlust und fremden Richtern. Wiederholt beklagten die sieben Departementsvorsteher 1991, die Schweiz würde als EWR-Mitglied zur Befehlsempfängerin Brüssels degradiert. Je länger man diskutierte, desto weniger akzeptabel erschien dies. Der Bundesrat wollte mitentscheiden, nicht Nachvollzug betreiben. Deshalb die Ankündigung des EG-Beitritts: Sie war eine klassische Flucht nach vorn.
Als Alternative zum EWR wurde 1991 ebenfalls darüber nachgedacht, die Beziehungen zu Brüssel mittels «paralleler bilateraler Verträge» zu regeln – genau so, wie das heute gemacht wird. Allerdings ging man damals ganz selbstverständlich davon aus, dass auch der bilaterale Weg die Schweiz über kurz oder lang in die EG führen würde.
Während dieser Zusammenhang hierzulande allmählich in Vergessenheit geriet, hat die EU den bilateralen Weg bis vor kurzem immer genau so verstanden: als Vorstufe zum Vollbeitritt. Es kommt nicht von ungefähr, dass Brüssel den Ton gegenüber Bern im Sommer 2016 verschärfte – just in dem Moment, als die Schweiz das Aufnahmegesuch von 1992 offiziell zurückzog.
1991 präsentierte sich die Situation für den Bundesrat fast unmöglich. Und ja, die Europafrage führte zu schweren Zerwürfnissen zwischen einzelnen Regierungsmitgliedern. Doch die Perspektive eines EG-Beitritts liess damals immerhin einen Ausweg erahnen.
2022 ist die Situation nur noch unmöglich.