In der Europadebatte regiert die Angst: Reden Politiker über das institutionelle Rahmenabkommen mit der Europäischen Union (Insta), geht es um Parteikonflikte, Machtverlust, Wählerverlust, um eine Abstimmungsniederlage.
Die Dramatik beruht wesentlich auf der vorherrschenden Annahme in Bundesbern, das Vertragswerk sei bei der Bevölkerung unbeliebt. Doch für das täglich wiederholte Mantra von der Chancenlosigkeit fehlt jeder Beweis. Einzige Indizien sind bisherige europapolitische Urnengänge sowie Umfragen – die allerdings in eine andere Richtung deuten.
Jetzt bringt eine neue Erhebung endgültig Zündstoff in die Diskussion: Gemäss einer repräsentativen Befragung unterstützen satte 64 Prozent der Stimmberechtigten das Abkommen. Was beinahe zwei Dritteln entspricht.
Konkret wurde den Teilnehmenden folgende Frage gestellt: «Würde ein solches institutionelles Abkommen Schweiz-EU zur Abstimmung kommen, wären Sie dann bestimmt dafür, eher dafür, eher dagegen oder bestimmt dagegen?» 49 Prozent erklärten, sie seien eher, 15Prozent, sie seien bestimmt dafür.
Die Resultate, die SonntagsBlick vorliegen, stammen vom Forschungsinstituts GFS Bern, das bei 1000 Stimmberechtigten nachgefragt hatte. In Auftrag gegeben wurde die Untersuchung von Interpharma, einem gewichtigen Branchenverband, der zu den Insta-Befürwortern zählt.
Die Zahlen sind brandaktuell, stammen von März und April. Spannend sind sie im Zeitvergleich: Im Februar und März 2019 betrug die Zustimmung bereits 60 Prozent; bis zur Messung im Mai und Juni 2020 stieg der Ja-Anteil auf 64 Prozent. Seither blieb die Marke stabil – allen Unkenrufen zum Trotz. Ob die Zustimmung seit Vorliegen des Entwurfs jemals höher war, ist nicht bekannt – der Wert mithin rekordverdächtig.
Stärkere Unsicherheit
Allerdings ging innerhalb des Ja-Lagers der Anteil der fest Überzeugten, die «bestimmt dafür» sind, seit letztem Sommer von 22 auf 15 Prozent zurück. Erklären lässt sich das als Ausdruck der gestiegenen Unsicherheit.
Die bis in den letzten Winter hinein andauernde Kommunikationslücke des Bundesrats wurde von neuen Formationen ausgefüllt, die gegen das Abkommen mobilmachen. Zu erwähnen ist insbesondere die Gruppe Kompass/Europa um den Zuger Private-Equity-Unternehmer Alfred Gantner.
Gewiss: Umfragen sind mit Vorsicht zu geniessen. Stimmungen sind keine Stimmen, wie ein Bonmot besagt. Doch ist dieser mutmassliche Unterschied zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung ein Wink an all jene Gegner des Abkommens, die sich auf den Volkswillen stützen.
Der hochkarätig besetzte Bund der Totensänger reicht – von SVP-Bundesrat Ueli Maurer («faktisch tot») über FDP-Ständerat Thierry Burkart («praktisch tot») und Die-Mitte-Präsident Gerhard Pfister («noch nie gelebt») bis zur ehemaligen SP-Bundesrätin Micheline Calmy-Rey («fast tot») – über das gesamte politische Spektrum hinweg.
Sachliche Argumente und Diskussionsgründe gegen das Insta sind alleweil vorhanden: Dazu gehören die drei bekannten Streitpunkte staatliche Beihilfen, Lohnschutz und Unionsbürgerrichtlinie, aber auch eine sehr grundsätzliche Diskussion über die Rolle des europäischen Gerichtshofs bei der Streitbeilegung.
Bundesrat unter Druck
Mit dem neuen Befund dürfte der Druck auf die Regierung noch weiter steigen; der Bundesrat hat es sich bereits in der Rolle des Sterbebegleiters bequem machen wollen. Sein ursprüngliches Kalkül, das heisse Eisen still und leise in der Schublade zu versorgen, ist ohnehin definitiv vom Tisch.
Die mittlerweile offenbar vorherrschende Strategie – Abwarten, Tee trinken und «evaluieren» – wird von Beobachtern als Verdienst der Befürworter gewertet. Ohne deren massives Pressing der letzten Wochen, so die übereinstimmende Einschätzung, hätte die Regierung das Abkommen womöglich bereits beerdigt.
Die Demoskopen heizen die komplizierte Ausgangssituation für das Siebnergremium nun noch weiter an. Die Euroturbos werden in ihrem Kampf beflügelt, die Vorlage ins Parlament zu bringen.
Der nächste Schachzug jedoch gehört zweifelsfrei dem Bundesrat. Er wolle nach einer Gesamtbeurteilung das «weitere Vorgehen festlegen», heisst es offiziell.