In der Schweiz sind Menschen mit Behinderungen in der Politik untervertreten – sie besetzen nur zwei von 200 Nationalratssitzen. Das, obwohl es hierzulande rund 1,7 Millionen Betroffene gibt. Am 22. Oktober kandidieren 25 Menschen mit Behinderungen für den Nationalrat und den Ständerat, so viele wie noch nie.
Zu finden sind die Kandidatinnen und Kandidaten auf der Behindertenliste von Pro Infirmis. Der 28-jährige Zürcher Keywan Nuri ist einer von ihnen. Er hat multiple Sklerose (MS) mit starker Fatigue. Das öffentlich zu machen, sei für ihn eine Befreiung gewesen. Die Angst, dass er sich damit schade, habe sich bisher nicht bewahrheitet. «Die meisten Leute sind offener, als man denkt.» Er will das Bewusstsein für «unsichtbare» Krankheiten schärfen und die Herausforderungen zeigen, mit denen Betroffene täglich konfrontiert sind. Nuri sieht man seine Einschränkungen nicht an, obwohl er unter Müdigkeit und ständigen Schmerzen leidet.
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
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Herr Nuri, weshalb stehen Sie auf der Behindertenliste?
Es hat sich für mich richtig angefühlt, den Schritt in die Öffentlichkeit zu wagen. Ich habe eine klare Behinderung, gehöre nicht zur Norm und muss im Alltag manchmal zurückstecken. Es war aber eine schwierige Entscheidung, das muss ich zugeben. Ich dachte zuerst, dass mich das stigmatisieren würde, dass jeder zukünftige Arbeitgeber in mir nur noch den Behinderten sieht und nicht, was ich effektiv leiste.
Was hat Ihr Outing, wie Sie es nennen, bewirkt?
Nachdem ich auf Social Media meine Krankheit öffentlich gemacht hatte, bekam ich sehr viele berührende Nachrichten und viel Unterstützung. Das gab mir Kraft und Mut, weiterzumachen. Mit meinem Outing konnte ich eine Last ablegen. Ich fühle mich seither freier und muss mich nicht mehr verstellen. Auch das Gefühl, es allen beweisen und recht machen zu müssen, ist seither verschwunden.
Wählt man Sie, weil Sie freisinnige Politik machen oder weil Sie Politik für Behinderte machen?
Ich bin ein freisinniger Politiker, der die chronische Krankheit MS und einen Migrationshintergrund hat. Ich habe viele Facetten, deshalb wählt man mich.
Können nur Menschen mit Behinderungen gute Behindertenpolitik machen?
Nein, natürlich nicht. Aber 1,7 Millionen Menschen in der Schweiz leben mit Beeinträchtigungen, das ist ein Fünftel der Gesellschaft. Im Parlament sind wir völlig untervertreten.
Betroffenheit ist also Legitimation genug, um gute Politik zu machen?
Man muss keine Behinderung haben, um gute Behindertenpolitik zu machen. Es braucht aber mehr Fachleute, die das nötige Wissen haben, um gute Politik für Betroffene zu machen. Dafür stehe ich ein. Wir wollen unsere Sicht im Parlament einbringen, damit sich etwas bewegt.
Es setzen sich aber auch nicht betroffene Politikerinnen und Politiker für die Anliegen von Menschen mit Behinderungen ein. Was befähigt Sie, es besser zu machen?
Eine direkte Betroffenheit schafft ein grösseres Verständnis für die Sache. Man reformiert ja auch nicht den Bankensektor, ohne Ökonomen beizuziehen. Es gibt keine Agrarpolitik ohne Landwirte. Kein Strafrecht ohne Juristinnen. Und die Expertise im Behindertenbereich haben wir Betroffenen. Wir wissen, worum es geht, wie es sich anfühlt, sind jeden Tag damit konfrontiert. Wir sind die Experten und Expertinnen, aber das heisst nicht, dass die Meinungen der anderen nicht ebenso wichtig sind. Und als Freisinniger achte ich auf die Kosten, die müssen verhältnismässig sein und dürfen nicht überborden, auch nicht für Behinderte.
Die steigenden Gesundheitskosten sind ein grosses Problem. Es klingt widersprüchlich, Behindertenpolitik kostengünstig umsetzen zu wollen. Wie soll das gehen?
Konkret müssen wir das elektronische Patientendossier vorantreiben, eine Generikapflicht einführen, und Leistung ohne nachgewiesene Wirksamkeit darf nicht weiter über die Krankenkassen abgerechnet werden. So sinken die Kosten stark. Wir haben das Glück, in einem Land mit hervorragender Gesundheitsversorgung zu leben. Diesem System müssen wir Sorge tragen. Es mag absurd klingen, aber die Leute müssen den Wert qualitativer Gesundheitsversorgung erkennen und schätzen. Nur so kommen wir weg von einer «All you can eat»-Mentalität und hin zu einem nachhaltigen Umgang mit diesem wichtigen Gut.
Wie hürdenfrei ist eigentlich das Parlament? Wenn man als Mensch mit Behinderungen zum Beispiel aus gesundheitlichen Gründen an einer Sitzung fehlen muss?
Das Parlamentsgebäude wird laufend mit weiteren Massnahmen barrierefrei. Erst vor kurzem wurde zum Beispiel der Podiumsbereich im Nationalratssaal rollstuhlgängig gemacht. Auch online muss man an den Sitzungen teilnehmen können. Ich möchte mit meinem Hintergrund Einfluss nehmen auf weitere Massnahmen.
Hätten Sie sich auch auf eine Migrationsliste setzen lassen, wenn es die gegeben hätte?
Nein, ich fühle mich zu 100 Prozent als Schweizer. Ich habe zwar einen Migrationshintergrund und schäme mich nicht für meine Wurzeln, aber ich definiere mich nicht über meine Herkunft. Meine Freunde sagen immer, ich sei der grösste Bünzli, den es gibt. Das verstehe ich als Kompliment.
Ein Bünzli? Inwiefern?
Weil ich gern wandere, meist pünktlich bin, ein hohes Arbeitsethos habe und als Zürcher das traditionelle Sechseläuten liebe. (Lacht)
Zum Schluss: Wie schätzen Sie Ihre Wahlchancen ein?
Meine Chancen für den Nationalrat sind gering, ein gutes Wahlresultat ist aber wichtig. Ich gebe Menschen mit chronischen und unsichtbaren Krankheiten eine Stimme. Wir können ein Zeichen setzen. Jeder Beitrag zur Debatte ist wertvoll, unabhängig vom Wahlergebnis. Ich werde alles daransetzen, das bestmögliche Resultat zu erzielen.