Herr Schefer, eine Nachbarin von mir ist 84, lebt allein, hat Diabetes und sieht immer schlechter. Mühselig, aber alltäglich. Würden Sie sie als «Menschen mit Behinderung» bezeichnen?
Markus Schefer: Ja, auf jeden Fall.
Die Frau selber würde sagen: «Auf gar keinen Fall!»
Das erstaunt mich nicht. Gerade ältere Leute haben Mühe, sich als «behindert» zu sehen. Denn damit ist immer noch eine abwertende Vorstellung verbunden: Menschen mit Behinderungen, das sind andere Leute. Solche, die nicht richtig zu unserer Gesellschaft gehören, die allenfalls gar in einem Heim versorgt werden.
Dieser Artikel wurde aus dem Magazin «Beobachter» übernommen. Weitere spannende Artikel finden Sie unter www.beobachter.ch.
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Müssen wir die Definition von «Behinderung» neu denken?
Wir müssen die Wahrnehmung schärfen, was wir als Gesellschaft unter «Behinderung» verstehen und wie wir sie bewerten. Ein weicher Faktor, aber zentral, damit die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention der Uno gelingt. Dazu ist die Schweiz seit 2014 verpflichtet.
Welche Sicht fehlt?
Eine Behinderung liegt ja nicht einfach vor, nur weil jemand eine körperliche oder geistige Beeinträchtigung hat. Zu einer Behinderung wird es erst dann, wenn diese Person deswegen wichtige Dinge nicht mehr tun kann. Rund ein Fünftel der Bevölkerung ist in der Ausübung bedeutender Aspekte der Persönlichkeit erheblich eingeschränkt, weil unsere Gesellschaft auf Menschen ausgerichtet ist, die keine solchen Beeinträchtigungen haben. Die Uno-Konvention besagt, dass Behinderung erst durch die Interaktion der Beeinträchtigung mit der Umwelt entsteht. Der Ansatz daraus: Man sollte nicht länger versuchen, an den Betroffenen zu «schräubeln», sondern an der Umwelt. Diese gesellschaftliche Denkweise muss sich noch stärker etablieren.
Zurück zu meiner Nachbarin: Sie hat Mühe, den Haushalt zu führen, Hilfe bekommt sie kaum. Obwohl sie nicht will, muss sie ins Heim. Würde die Initiative daran etwas ändern?
Die Frau hätte wohl Anspruch auf persönliche Unterstützung und könnte im gewohnten Umfeld bleiben. Ein wichtiger Punkt, auf den die Initiative ausdrücklich zielt: das Recht, selber zu bestimmen, wie und mit wem jemand wohnt. Ein Recht, bei dem man typischerweise nicht darüber nachdenkt, dass das ein Recht sein könnte, weil es für die meisten selbstverständlich ist. Doch weil viele Leute mit einer Behinderung diese Wahlfreiheit nicht haben, muss man daraus einen rechtlichen Anspruch formulieren.
Markus Schefer (58) ist Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Uni Basel. Er hat beim Initiativtext mitgewirkt. Seit 2019 ist er Mitglied des Uno-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen.
Markus Schefer (58) ist Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Uni Basel. Er hat beim Initiativtext mitgewirkt. Seit 2019 ist er Mitglied des Uno-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen.
Betrifft die Inklusions-Initiative also letztlich alle Menschen in der Schweiz?
Ja, was die Initiative in der Verfassung verankern will, hat Auswirkungen für uns alle, gerade auch für die, die im Seniorenalter in dieser Situation sind. Die meisten von uns werden einmal in irgendeiner Weise behindert sein – und wir wollen das Recht behalten, zu entscheiden, wie wir den letzten Teil unseres Lebens verbringen. Dabei ist die Ursache einer Beeinträchtigung irrelevant. Ob sie gesundheitsbedingt ist oder von Geburt an besteht, ob man einen Unfall hatte oder ob sich die Einschränkung im Alter entwickelte: Rechtlich ist das kein Unterschied.
Warum soll freie Wahl des Wohnens in die Verfassung aufgenommen werden?
Weil es um ein Grundrecht geht, von dem sehr viele Leute in massgeblichen Aspekten ihrer Lebensführung betroffen sind. Und weil es in diesem Bereich tiefgehende strukturelle Änderungen braucht.
Heisst das, Wohnheime sind überholt?
Aus meiner Sicht sind Heime ein Auslaufmodell. Rund 150'000 Menschen mit Behinderungen leben in einem institutionellen Rahmen. Die Behindertenrechtskonvention zielt darauf ab, dass man mit diesen Institutionen aufhört. Doch man muss aufpassen. Das Schlagwort «Deinstitutionalisierung» enthält nur die negative Sicht: Wie soll etwas nicht mehr sein? Nicht: Wie soll es stattdessen sein? Welche alternativen Unterstützungs- und Infrastrukturmodelle muss man entwickeln?
Das klingt anspruchsvoll.
Eine Gefahr ist, dass man die Dinge nur schwarz-weiss sieht und das Bisherige verteufelt. Es gibt viele, die sagen: «Mir geht es gut im Heim, ich will nicht raus.» Das muss man ernst nehmen. Aber man sollte nachfragen, weshalb jemand lieber im Heim ist. Aus Angst, allein in einer kleinen Wohnung zu vereinsamen? Das ist ein ganz grosses Thema. Aber würde diese Person auch im Heim bleiben wollen, wenn sie ausserhalb jene Unterstützung hätte, die ihr ein Leben mit sozialen Kontakten ermöglicht? Entscheidend ist, dass man eine echte Auswahl hat.
Die rund 1,8 Millionen Menschen mit Behinderungen in der Schweiz werden in vielen Aspekten diskriminiert – trotz Ratifikation der Uno-Behindertenrechtskonvention und Gleichstellungsgebot in Verfassung und Gesetz. Nun legt der Bundesrat Pläne für eine Teilrevision des Behindertengleichstellungsgesetzes vor, um ihre Rechte zu stärken.
Am 27. April startet die Unterschriftensammlung für die Inklusions-Initiative. Sie fordert einen neuen Artikel 8a in der Verfassung. Ziel: die «rechtliche und tatsächliche Gleichstellung von Menschen mit und ohne Behinderungen in allen Lebensbereichen». Explizit ausgeführt sind Ansprüche auf Assistenz und die freie Wahl von Wohnform und -ort. Hinter der Initiative steht ein überparteiliches Netzwerk von Organisationen und Bürgern. Unterstützer sind etwa der Dachverband Inclusion Handicap und Amnesty Schweiz.
Die rund 1,8 Millionen Menschen mit Behinderungen in der Schweiz werden in vielen Aspekten diskriminiert – trotz Ratifikation der Uno-Behindertenrechtskonvention und Gleichstellungsgebot in Verfassung und Gesetz. Nun legt der Bundesrat Pläne für eine Teilrevision des Behindertengleichstellungsgesetzes vor, um ihre Rechte zu stärken.
Am 27. April startet die Unterschriftensammlung für die Inklusions-Initiative. Sie fordert einen neuen Artikel 8a in der Verfassung. Ziel: die «rechtliche und tatsächliche Gleichstellung von Menschen mit und ohne Behinderungen in allen Lebensbereichen». Explizit ausgeführt sind Ansprüche auf Assistenz und die freie Wahl von Wohnform und -ort. Hinter der Initiative steht ein überparteiliches Netzwerk von Organisationen und Bürgern. Unterstützer sind etwa der Dachverband Inclusion Handicap und Amnesty Schweiz.
Die Wahl dürfte auf die Lösung fallen, die am meisten Vorteile bringt. Doch je individueller, umso teurer ist es.
Das ist ein typisches Argument bei Behindertenangelegenheiten: Man weiss immer von Anfang an, dass es zu teuer wird.
Ich sage: Es wird teurer. Nicht: zu teuer.
Aber im Hintergrund schwingt mit: Es ist teuer, also ist es ein Problem. Natürlich werden uns einige Dinge mehr kosten. Aber jetzt entwickeln wir diese Sachen doch einmal und schauen, was man finanzieren kann und was nicht. Mich stört zudem der Verweis auf die individuellen Vorteile. Weil er einen gewissen Unterton hat. Wir alle wollen unser Leben optimieren und als Individuen selbst bestimmen – aber wehe, Menschen mit Behinderungen wollen das auch.
Die Schweiz hat die Uno-Konvention ratifiziert. Weshalb braucht es jetzt noch diese Volksinitiative?
Es stimmt, alle rechtlichen Verpflichtungen des Staats sind mit der Konvention bereits vorhanden. Und seit 2000 steht eine allgemeine Bestimmung in der Verfassung, wonach Bund und Kantone Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen beseitigen müssen. Und auf Bundesebene gibt es das Behindertengleichstellungsgesetz. Nur: Die Dinge, die man in Verfassung und Gesetz geschrieben hat, werden höchst gemächlich umgesetzt – oder gar nicht. Nach 20 Jahren Trödelei ist jetzt ein ausdrückliches Statement von Volk und Ständen nötig: Wir wollen das wirklich, macht jetzt endlich vorwärts! Und es braucht die Gewährleistung individueller Rechtsansprüche. In der ganzen Sache ist einfach bedeutend mehr Biss gefragt, schliesslich geht es um elementare Grund- und Menschenrechte.