«Der Grundsatz der Invalidenversicherung ‹Integration vor Rente› ist ein Witz!», sagt Barbara Müller (59). Die promovierte Geologin der ETH Zürich und Autistin mit einer Sehbehinderung muss es wissen – nicht weniger als 17 Gerichtsverfahren waren nötig, damit sie weiterhin ihrer Arbeit nachgehen kann.
Müller hat das Aspergersyndrom und gilt als hochbegabt. Nach ihrem Doktortitel in Geologie hat sie auf der ganzen Welt gearbeitet, hauptsächlich in Minen für den Abbau von Metallen. Auch heute verbringt die Thurgauerin immer noch drei bis vier Monate im Jahr für solche Projekte in Nepal. Sie leidet am sogenannten «Tunnelblick», eine vererbbare Krankheit, bei der man nach und nach erblindet.
17 Gerichtsverfahren für Unterstützungsleistungen
Dass dies für sie trotz zunehmender Sehschwäche noch möglich ist, ist keine Selbstverständlichkeit. Über Jahre hinweg musste Müller um Unterstützungsleistungen, die sie zum Arbeiten braucht, kämpfen. «Sage und schreibe elf Verfahren und einen Wechsel meines IV-Dossiers aus dem Thurgau nach Zürich brauchte es, dass ich trotz meiner Selbstständigkeit Anspruch auf ein Mindestmass an bezahlter Unterstützung habe», sagt sie.
Dabei habe sie noch Glück, findet Müller. «Wegen meiner guten Bildung und meiner Erfahrung in der Politik verstehe ich gewisse Prozesse und kann mich dagegen wehren.» Viele andere Menschen hätten sich einfach ihrem Schicksal fügen müsse und den Traum der Selbstständigkeit begraben – unendlich viel verlorenes Potenzial.
«Corona-skeptische» Aussagen und der Parteirauswurf
Müller sitzt als Kantonsrätin im Grossen Rat des Kantons Thurgau. Bis vor einem Jahr politisierte sie dort für die SP. Wegen Differenzen mit der Partei und angeblichen corona-skeptischen Aussagen warf sie die SP Aadorf vor gut einem Jahr aus der Partei – seither ist Müller parteilos.
Sie erhofft sich von der Behindertensession am 24. März, «dass es keine Alibiübung wird». Sondern, dass Probleme von Menschen mit Behinderung endlich ernst genommen werden. Sie fordert unter anderem eine absolute Einzelfallabklärung. Das bedeutet, dass jeder Mensch mit Behinderung als Individuum angesehen wird und man gemeinsam mit ihm oder ihr nach der individuell besten Lösung sucht.
Weiter fordert sie den Aufbau von Kompetenzzentren, die sich ganz auf eine Form von Beeinträchtigung spezialisieren und so auch professionell helfen können. «Vor allem in kleinen Kantonen ist es oft schwierig. Entweder fehlt es an Kompetenz oder an Personal», so Müller.