Krankenkasse Visana setzt auf US-Modell
«Wir zwingen niemanden, einen Pulsmesser zu tragen»

Mitte-Nationalrat und Visana-Präsident Lorenz Hess will ein neues Versicherungsmodell in der ganzen Schweiz. Integrierte Versorgung soll die Kosten im Gesundheitswesen endlich senken.
Publiziert: 23.07.2023 um 15:02 Uhr
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Aktualisiert: 24.07.2023 um 08:03 Uhr
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Im Parlament betrachtet Lorenz Hess seine Rolle als Gesundheitspolitiker – und nicht als Versicherer-Lobbyist.
Foto: Remo Neuhaus
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Peter AeschlimannRedaktor

Herr Hess, wie viel kostet die Prämie bei der Visana im nächsten Jahr?
Lorenz Hess: Selbst wenn ich das wüsste, dürfte ich es Ihnen nicht sagen. Was mir aber Sorge bereitet: Sie wird bestimmt teurer.

Woran machen Sie das fest?
Bereits im ersten Quartal 2023 sind mehr Gesundheitsleistungen bezogen worden als während der gleichen Periode des Vorjahrs. Mehr Medikamente, Therapien, Hospitalisierungen. Das schlägt sich in der Prämie nieder: Die Krankenkassenverbände prognostizieren einen Preisanstieg um 6 bis 10 Prozent.

Im Kanton Bern bezahlte ich so bei der Visana im nächsten Jahr um die 400 Franken monatlich. Hätte ich drei Kinder, würde es langsam eng.
Für viele wird das zum Problem. Jemand hat einmal zu mir gesagt: «In der Schweiz fahren wir lieber einen BMW als einen VW Golf.» Wer ein Top-Gesundheitssystem verlange, müsse dafür eben auch bezahlen. Alles schön und gut. Nur: Immer mehr Leute können diese Summen nicht mehr stemmen. Dann bekommen sie Prämienverbilligungen, für die letzten Endes die Steuerzahlenden aufkommen müssen. Darum muss jetzt etwas geschehen!

Die FDP spricht nicht von BMW und VW, sondern von «Wasser statt Champagner». Was halten Sie von der freisinnigen Idee einer abgespeckten «Budget-Krankenkasse»?
Im Sorgenbarometer schwingen die Krankenkassenprämien obenaus. Da steckt also viel Wahlkampf mit drin. Ein solches Modell bedeutete jedoch eine Abkehr von unserem System, in dem die Gesunden mit den Kranken solidarisch sind.

Die Visana würde also keine Budget-Versicherung in ihr Angebot integrieren?
Wir gehen andere Wege. In unserem alternativen Versicherungsmodell einer regionalen integrierten Versorgung, mit dem wir im nächsten Jahr im Jurabogen loslegen, sind einige der guten Elemente aus dem FDP-Vorschlag bereits drin: der Fokus auf Prävention etwa, oder ein funktionierendes elektronisches Patientendossier, um Doppelspurigkeiten zu vermeiden.

Integrierte Versorgung klingt sehr abstrakt. Was macht das Modell aus?
Das Gesundheitswesen mit all seinen Akteuren lebt aktuell von den Kranken. Man verdient, weil die Leute zur Ärztin, zum Apotheker oder unters Messer müssen. Integrierte Versorgung funktioniert hingegen dann, wenn man alles dafür unternimmt, dass die Menschen möglichst nicht zu Patientinnen und Patienten werden. Deshalb sind echte Prävention und Früherkennung so entscheidend. Für sämtliche Versicherten gibt es ein fixes Budget. Das setzt den positiven Anreiz, Doppelspurigkeiten möglichst zu verhindern.

US-Modell für die ganze Schweiz

Am 1. Januar 2024 beginnt die Wette: Der Kanton Bern, die Klinikgruppe Swiss Medical Network und die Visana wollen in der Region Jurabogen mit dem Projekt «Réseau de l’Arc» beweisen, dass regionale integrierte Versorgung auch in der Schweiz funktioniert. Bei diesem Modell hat jeder Versicherte ein fixes Budget. Alle Player sind daran interessiert, dass möglichst wenige Kosten entstehen. Das führt zu günstigeren Prämien – und, wenn es aufgeht, mittels Prävention und enger Begleitung zu weniger Krankheitsfällen. In den USA und in Spanien haben es ähnliche Modelle geschafft, die Kosten so um rund 20 Prozent zu senken. Man wolle das «Krankheitssystem» zu einem echten «Gesundheitssystem» transformieren, schreibt die Visana in einer Mitteilung. Sie beteiligt sich mit 11,1 Prozent am Aktienkapital der Swiss Medical Network. Mittel- und langfristig sollen schweizweit mehrere integrierte Versorgungsregionen entstehen.

Am 1. Januar 2024 beginnt die Wette: Der Kanton Bern, die Klinikgruppe Swiss Medical Network und die Visana wollen in der Region Jurabogen mit dem Projekt «Réseau de l’Arc» beweisen, dass regionale integrierte Versorgung auch in der Schweiz funktioniert. Bei diesem Modell hat jeder Versicherte ein fixes Budget. Alle Player sind daran interessiert, dass möglichst wenige Kosten entstehen. Das führt zu günstigeren Prämien – und, wenn es aufgeht, mittels Prävention und enger Begleitung zu weniger Krankheitsfällen. In den USA und in Spanien haben es ähnliche Modelle geschafft, die Kosten so um rund 20 Prozent zu senken. Man wolle das «Krankheitssystem» zu einem echten «Gesundheitssystem» transformieren, schreibt die Visana in einer Mitteilung. Sie beteiligt sich mit 11,1 Prozent am Aktienkapital der Swiss Medical Network. Mittel- und langfristig sollen schweizweit mehrere integrierte Versorgungsregionen entstehen.

Auf Prävention setzen auch bestehende Modelle.
Viele zahlen zum Beispiel etwas ans Fitnessabo, klar. Unser Ansatz geht aber weiter. Weshalb nicht ein Fitnesscenter ins System integrieren? Gratis. Mit Coaches, die beraten. Das wäre konkrete Prävention. Also nicht bloss einen Schrittzähler mit der Aufforderung aushändigen, doch etwas mehr zu Fuss zu gehen.

Nicht alle wünschen sich jemanden, der sie auf falsche Essgewohnheiten oder zu wenig Bewegung hinweist.
Wir zwingen niemanden. Und wir statten unsere Versicherten schon gar nicht mit einem Pulsmesser aus. Tatsache ist: Jeder ist daran interessiert, möglichst lange gesund zu bleiben.

Man muss den Beweis erst noch erbringen, dass integrierte Versorgung in der Schweiz funktioniert. Dennoch planen Sie bereits weitere Cluster in anderen Regionen. Was macht Sie so sicher, dass Sie damit Erfolg haben werden?
Ich bin zu 120 Prozent überzeugt von dem Modell. Wir haben die Vorbilder im Ausland studiert. «Kaiser Permanente» in den USA oder «Ribera Salud» in Spanien schafften es, die Kosten um rund 20 Prozent zu senken. Es ist einfach: Der Markt entscheidet. Gelingt es uns, genügend Leute von den Vorteilen unseres Modells zu überzeugen, bringen wir es zum Fliegen.

Wie viele Leute müssen mitmachen?
Das kommt auf die Region an. Wir versuchen aber, möglichst schnell die Grenze von 20'000 Versicherten zu erreichen. Dann beginnt das System der integrierten Versorgung zu spielen.

Wer gesund ist, achtet doch primär auf den Preis. Steigt die Prämie für die Grundversicherung, wechselt er oder sie Ende Jahr einfach zur Konkurrenz.
Wenn sich die Versicherten gut und effizient behandelt fühlen, bleiben sie. Das wiederum ermöglicht es uns, eine attraktive Prämie festzulegen, die nicht jedes Jahr weiter steigt.

Was springt für die Visana dabei raus?
Wir machen das nicht einfach, weil wir Gutmenschen sind. Als einer der grossen Versicherer stehen wir aber in der Pflicht, etwas gegen das Kostenwachstum zu unternehmen. Wir haben null Interesse daran, jeden Herbst ein Überbringer schlechter Nachrichten zu sein.

In den vergangenen vier Jahren hat es die Politik nicht geschafft, grosse Reformen im Gesundheitswesen durchzubringen. Manche machen dafür die zunehmende Polarisierung verantwortlich. Nun besagen Wahlprognosen, dass im Herbst ausgerechnet die beiden Pol-Parteien SVP und SP zulegen werden. Was bedeutet das für die Gesundheitspolitik?
Polarisierung hilft nirgends, schon gar nicht in der Gesundheitspolitik. Nicht nur die Parteien, auch die verschiedenen Akteure betonen ständig: Es gibt Handlungsbedarf. Geht es dann aber darum, am Tisch gemeinsam Lösungen zu finden, verharrt man auf den eigenen Positionen. Gesundheitsminister Alain Berset hat immerhin ein Kostendämpfungspaket aufgegleist. Man kann über die Massnahmen darin geteilter Meinung sein. Es zeigt aber exemplarisch, weshalb wir kaum weiterkommen: Irgendein Player setzt immer eine rote Linie. Und am Schluss resultieren Papiertiger. Das ist sehr ernüchternd. Dieses Verharren auf Extrempositionen hat uns schliesslich dazu gebracht, selber etwas zu unternehmen und nicht darauf zu warten, bis sich alle zusammenraufen.

Persönlich: Lorenz Hess

Lorenz Hess (62) ist seit über 20 Jahren Gemeindepräsident von Stettlen BE. 2011 wurde der Mitte-Politiker in den Nationalrat gewählt. Als Verwaltungsratspräsident der Visana-Gruppe bereitet dem Vater dreier Töchter die Kostenexplosion im Gesundheitswesen Sorge. Bei den Wahlen im Herbst kandidiert Hess für einen Sitz im Ständerat.

Lorenz Hess (62) ist seit über 20 Jahren Gemeindepräsident von Stettlen BE. 2011 wurde der Mitte-Politiker in den Nationalrat gewählt. Als Verwaltungsratspräsident der Visana-Gruppe bereitet dem Vater dreier Töchter die Kostenexplosion im Gesundheitswesen Sorge. Bei den Wahlen im Herbst kandidiert Hess für einen Sitz im Ständerat.

Als Verwaltungsratspräsident eines grossen Krankenversicherers gehören Sie zu den Akteuren.
Fürs Lobbying im Bundeshaus sind die Verbände zuständig – wir haben mit Santésuisse und Curafutura ja sogar zwei davon (lacht). Klar: Mitte tönt nicht so sexy. Links und rechts kann man mehr Lärm veranstalten. Aber gerade in der Gesundheitspolitik sind nur dann Erfolge möglich, wenn man Kompromisse schmieden kann. Das «Réseau de l’Arc» ist ein gutes Beispiel dafür. Hier haben zum ersten Mal der Kanton, die Leistungserbringer und wir als Versicherer etwas gemeinsam entwickelt. Sonst sitzen sich diese Player am Tisch gegenüber und feilschen. Wir haben innerhalb eines Jahres ein Konzept beim BAG eingereicht.

Noch kurz zu den Wahlen: Laut einer aktuellen Prognose könnte die Mitte die FDP überholen. Werden Sie einen zweiten Bundesratssitz fordern, falls dies eintrifft?
Da müsste am Abend des Wahlsonntags ein klares Resultat vorhanden sein. Umgesetzt würde es aber nicht sofort. Denn dies würde eine Abwahl eines bestehenden FDP-Bundesrats bedeuten. Da bin ich konsequent dagegen. Die Frage würde sich also erst bei einer Vakanz stellen. Und wie gesagt nur dann, wenn ein klares Resultat vorliegt.

Die Zauberformel ist klar: Die drei grössten Parteien haben je zwei Sitze.
Es ist wie im Sport: Wer mit einer Hundertstelsekunde Vorsprung im Ziel vorne liegt, gewinnt. Falls wir also die FDP tatsächlich überholen sollten, wird sich diese Frage stellen.

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