SonntagsBlick: Frau Nold, die Krankenkassenprämien steigen ungebremst weiter. Wie schlimm wird es?
Verena Nold: Die Zahlen sind tatsächlich beunruhigend. Pro Kopf sind die Kosten in den ersten beiden Monaten des laufenden Jahres um 7,5 Prozent gestiegen. Schon im letzten Jahr machten die Krankenkassen 1,5 Milliarden Franken Verlust. Nun ist nicht mehr genügend vorhanden, um die Löcher zu stopfen. Das Resultat ist ein weiterer Prämienanstieg.
Wann können sich Normalverdienende die Krankenversicherung nicht mehr leisten?
Bald. Je nach Versicherungsmodell und Wohnort bezahlt eine vierköpfige Familie für die obligatorische Grundversicherung bis zu 1200 Franken pro Monat. Die Prämien steigen viel stärker als die Löhne, so bleibt weniger Geld für anderes übrig. Wenn wir nichts unternehmen, fahren wir unser Gesundheitswesen an die Wand.
Hat man es in den letzten Jahren versäumt, die Prämien der Kostenrealität anzupassen?
Während der Pandemie blieben die Prämien stabil. Das hatte aber nicht nur mit dem Behandlungsstopp zu tun. Die Krankenversicherer zapften auch ihre Reserven an, um die Versicherten nicht zusätzlich zu belasten. Kaum war die Pandemie vorbei, schossen die Kosten durch die Decke. Der Bundesrat hat im letzten Jahr eine politische Prämie festgelegt, die nicht genügte, um die Kosten zu decken. Irgendwann holt einen das ein. Wir hätten bereits die Prämien für 2023 um zehn Prozent erhöhen müssen.
Was treibt die Gesundheitskosten derart in die Höhe?
Sorge bereiten uns etwa die gestiegenen Arzneimittelkosten. Bei Apotheken und Arztpraxen, die Medikamente abgeben dürfen, stiegen sie überdurchschnittlich. Das hat zwei Gründe: die hohen Preise hierzulande – und dass sehr viele Medikamente verschrieben werden.
Wir sind vielleicht auch einfach häufiger krank …
Das denke ich nicht. Es ist ein simpler Mechanismus: Gibt es viele Ärzte, gehen mehr Menschen zum Arzt und es wird automatisch mehr behandelt. Ob diese Therapien immer notwendig und zielführend sind, wissen wir nicht. Dafür fehlen uns schlicht die Daten. Wir sehen zwar die Kostenentwicklung, in Sachen Qualität bewegen wir uns aber im Blindflug.
Weshalb fehlen diese Daten?
Wer abrechnen darf, ohne dabei Rechenschaft ablegen zu müssen, kann es sich ziemlich bequem machen. Mit der Einführung des neuen Krankenversicherungsgesetzes im Jahr 1996 wurden die Leistungserbringer verpflichtet, Qualitätskonzepte zu entwickeln. Passiert ist aber nichts. Seit 2021 gilt ein schärferes Gesetz, die damit eingeführte Eidgenössische Qualitätskommission steht mit ihrer Arbeit aber noch ganz am Anfang. Man versucht jetzt, Qualitätsmessungen durchzuführen, um endlich Transparenz herstellen zu können.
Ein riesiger administrativer Aufwand, der noch mehr Kosten produziert.
Der Aufwand wird sich in Grenzen halten. Zudem können unnötige Behandlungen vermieden werden. So spart man viel Geld und schützt die Patienten. Der Bundesrat hat in einer Studie festgestellt, dass bei effizienter Behandlung fast 20 Prozent respektive etwa acht Milliarden Franken Kosten eingespart werden könnten.
Der kürzlich erschienene Gesundheitsatlas zeigt frappante regionale Unterschiede bei Behandlungen. In Neuenburg wird viel mehr Ritalin verschrieben als überall sonst, in Basel leiden viel mehr Menschen an Lungenkrebs.
Das liegt bestimmt nicht an den Patientinnen und Patienten. Nochmals: Wo die Dichte an Orthopäden hoch ist, schnellt die Zahl der orthopädischen Eingriffe in die Höhe. Dieser Zusammenhang ist nicht von der Hand zu weisen. In den Kantonen Genf oder Basel-Stadt, wo überdurchschnittlich viele Ärzte praktizieren, bezahlt man die höchsten Prämien.
Wie sähe Ihre Lösung aus?
Das Parlament hat reagiert und die Kantone dazu verpflichtet, bei den Zulassungen genauer hinzuschauen: Benötigt es überhaupt neue Ärzte? Wer in der Schweiz praktizieren will, soll sich dort niederlassen, wo es einen Ärztemangel gibt.
Wie bringt man eine junge Ärztin aus der Stadt Zürich dazu, ihre Praxis in einem Bergdorf zu eröffnen?
Wenn Sie als Banker Ihren Job am Paradeplatz verlieren, müssen Sie vielleicht in eine Filiale nach Chur wechseln. Ist das denn so schlimm? Ich fand als Bündnerin auch Arbeit in Zürich. Und stellen Sie sich vor: Die Schweiz ist überall schön!
Die Leute werden älter, die Anzahl ihrer chronischen Erkrankungen steigt. Früher wären diese Leute einfach gestorben.
Die demografische Entwicklung hat einen Effekt auf die Gesundheitskosten, aber der wird überschätzt. Klar: Mit dem Alter steigt die Wahrscheinlichkeit, dass man ins Pflegeheim muss oder die Spitex benötigt. Diese Pflegekosten steigen überdurchschnittlich. Andere Faktoren haben einen grösseren Einfluss auf Gesundheitskosten, namentlich der medizinische Fortschritt.
Wie meinen Sie das?
Zum Glück stehen uns heute viel mehr Behandlungsmöglichkeiten für Krebspatienten zur Verfügung. Zugleich sind die neuen, innovativen Krebsmedikamente und Therapien einer der grössten Kostentreiber im Gesundheitswesen. Es ist richtig, dass wir uns diese leisten. Dass man aber gleichzeitig Behandlungen, die nachweislich keinen Nutzen bringen, nicht aus dem Leistungskatalog streicht, halte ich für einen grossen Fehler. Wenn wir unser System nachhaltig finanzierbar gestalten wollen, müssen wir effizienter werden.
Wie gelingt uns das?
Eine Chirurgin, die einen komplizierten Eingriff sehr häufig durchführt, erzielt bessere Resultate. Das ist wissenschaftlich erwiesen. Auf dieser Grundlage sollte entschieden werden, wo was gemacht wird. Spezialisierung führt auch zu Qualitätsverbesserung. Die Kantone müssten strenger sein und nicht jedem Kleinstspital sämtliche Leistungsaufträge erteilen.
In den USA oder in Grossbritannien gibt es eine Obergrenze für die Kosten eines zusätzlichen Lebensjahres. Weshalb nicht auch in der Schweiz?
Dann hätten wir alles falsch gemacht. Bevor wir rationieren, müssen wir das Gesundheitswesen rationalisieren, sprich: effizienter gestalten. Zum Schutz der Prämienzahlerinnen und Prämienzahler!
Müsste man nicht auch unsere Anspruchshaltung hinterfragen? Wer nach einem Zeckenstich nervös wird, wenn er auf dem Notfall eine halbe Stunde warten muss, kann sich doch nicht über steigende Krankenkassenprämien beschweren.
Es ist wichtig, dass die Notfallstationen nicht mit Bagatellfällen verstopft werden. Um das zu verhindern, wird im Parlament darüber beraten, ob Spitäler für Bagatellfälle eine Gebühr erheben können.
Wir haben das beste Gesundheitssystem. Weshalb darf es nichts kosten?
Wenn es spitze ist, darf es etwas kosten. Heute haben wir aber eine Qualitäts-Blackbox. Wir vermuten, dass unser Gesundheitssystem gut ist – aber es gibt keine Zahlen, die das belegen. Man muss Profi sein, um Statistiken zu verstehen, die Auskunft geben über die Qualität eines Spitals. Entscheidend ist: Wie gehts Patienten nach Behandlungen? Dazu gibts keine Statistik.
Der Ständerat verlangt, dass sich Versicherer stärker an den Kosten für die Langzeitpflege beteiligen. Weshalb wehren Sie sich dagegen?
Der Vorschlag ist Teil der Vereinheitlichung bei der Finanzierung von ambulanten und stationären Behandlungen. Dagegen haben wir grundsätzlich nichts. Problematisch ist die Integrierung der Kosten für Langzeitpflege. Die Krankenversicherung ist keine Pflegeversicherung, das Alter keine Krankheit. Derzeit bezahlen die Krankenversicherer aus der obligatorischen Grundversicherung jährlich 33 Milliarden. Würde die Langzeitpflege integriert, wären es mittelfristig rund fünf Milliarden mehr. Es käme zu einer Prämienexplosion.
Sie möchten, dass auf diesem Gebiet alles beim Alten bleibt?
Das Problem der Pflegefinanzierung muss gelöst werden – der Vorschlag des Ständerats aber ist für uns ein No-Go.