Die oberste Apothekerin Martine Ruggli hat momentan alle Hände voll zu tun. Ihr Terminkalender ist rappelvoll. Denn es fehlt an Medikamenten. Die Apotheken laufen auf Hochtouren – sie suchen täglich nach neuen Alternativen für die fehlenden Arzneimittel. Der Bund hat die Lage jüngst gar als «problematisch» eingestuft. Blick trifft Ruggli in ihrem Büro in Bern zum Interview. Für ein Treffen in einer Apotheke reicht die Zeit nicht.
Blick: Frau Ruggli, welche Medikamente fehlen aktuell in den Apotheken?
Martine Ruggli: Die Lücken ziehen sich durch das ganze Sortiment – etwa 7 Prozent aller Medikamente, die von der Krankenkasse bezahlt werden, fehlen. Es fing an, als es kalt wurde. Zum Beispiel mit Antibiotika, die über den Winter viel mehr gebraucht werden. Es fehlen aber auch Schmerzmittel, Mittel fürs Herz oder gegen hohen Blutdruck, Medikamente gegen Parkinson, Epilepsie oder Depression sowie Arzneien für Kinder.
Was können die Apotheken dagegen tun?
Die Apothekerinnen und Apotheker versuchen, die beste Alternative für die Kundinnen und Kunden zu finden. Das braucht extrem viel Zeit. Schon am Morgen hat man vier, fünf Kunden, für die man ein neues Medikament suchen und häufig Rücksprache mit dem Arzt halten muss. Gewisse Medikamente wie Hustensirup können die Apotheken auch selbst herstellen. Dafür braucht es aber auch wieder Zeit, und es ist teurer.
Das muss stressig sein. Wie ist die Stimmung in den Apotheken?
Der Mehraufwand sorgt bei den Apothekerinnen und Apothekern für Anspannung, da tagtäglich mehr Medikamente fehlen. Ein halber bis ein Tag pro Woche wird nur dafür aufgewendet, nach neuen Lösungen zu suchen. Zusätzlich zum Tagesgeschäft. Wir sind seit drei Jahren am Anschlag, seit der Pandemie. Wir haben gehofft, dass nun etwas Ruhe kommt. Das ist nicht der Fall. Es fehlt uns auch an Personal, wie im gesamten Gesundheitswesen.
Wer leidet am meisten?
Das sind immer die Patientinnen und Patienten. Es braucht viel mehr Aufwand vom Arzt oder Apotheker, aber leiden tun die Patienten. Diese zeigen Verständnis, manchmal bereitet ihnen die Situation aber grosse Sorgen. Ein Epileptiker könnte wegen eines fehlenden Medikaments einen Anfall haben. Ein Wechsel ist schwer, weil das neue Medikament nicht hundertprozentig gleich wirksam ist. Das ist ein Stress für den Patienten.
Welches Medikament droht uns als Erstes auszugehen – ohne jegliche Alternative?
Das ist sehr abhängig davon, was die Bevölkerung braucht. Antibiotika sind sehr saisonal, wir haben viel mehr Infektionen im Winter. Wenn wir jetzt einen langen, kalten Winter mit vielen schweren Erkältungen haben, könnte es sehr problematisch werden.
Wie ist es überhaupt zu dieser Lage gekommen?
Wir sitzen weltweit im gleichen Boot. Das grosse Problem: 90 Prozent der Wirkstoffe, aus denen die Medikamente bestehen, kommen aus Indien und China. Weil es günstig ist. Das ist ein grosses Risiko. Als China seine Null-Covid-Politik beendete, brauchten die Chinesen sehr viel Fieber- und Schmerzmittel, da alle krank wurden. Chinesische Hersteller haben deshalb weniger Wirkstoffe ins Ausland verkauft. Die Pandemie wird noch länger Nachwirkungen haben. Einen grossen Einfluss haben auch die verzögerten Lieferungen von Verpackungsmaterialien wie zum Beispiel von Glas und Karton.
Wie sieht es in anderen Ländern aus?
Ich war gerade in Marokko. Dort gab es keinen Nasenspray mehr, auch keine Alternativen. Sie hatten einfach nichts mehr! Wir sind noch nicht so weit. Aber es wird langsam eng.
Was muss passieren, damit wir wieder aus dieser Notlage herauskommen?
Dieses Problem kann man nicht von heute auf morgen lösen. Es wird Zeit brauchen. Die Schweiz muss sich nun mit Europa für die Zukunft wappnen. Wichtig wäre, dass nicht alle Wirkstoffe aus Asien kommen. Es braucht verschiedene Quellen. In ganz Europa gibt es nur noch eine Firma, die selbst Antibiotika herstellt – Sandoz in Österreich. Sonst ist alles weg. Um neue Standorte aufzubauen, braucht es sicher mehrere Jahre. Aber es ist möglich. In der Schweiz haben wir zudem Pflichtlager für etwa 120 essenzielle Medikamente, also nicht sehr viel. Auch einfache Schmerzmittel müssten kontrolliert werden, wie beispielsweise Paracetamol.
Martine Ruggli (58) ist seit 2021 Präsidentin des Apothekerverbandes Pharmasuisse. Damit hat sie die Leitung mitten in der Corona-Pandemie übernommen. Die Freiburgerin ist studierte Pharmazeutin und hat ihre Karriere in der Berner Zähringer Apotheke begonnen. Sie war schon vor ihrer Präsidentschaft während fast 20 Jahren bei Pharmasuisse tätig. Ruggli kommt aus einer Grossfamilie, gemeinsam mit ihrem zweiten Mann hat sie acht Kinder und mehrere Enkelkinder. Zur Familie gehört auch SBB-Chef Vincent Ducrot (60): Er ist Rugglis älterer Bruder.
Martine Ruggli (58) ist seit 2021 Präsidentin des Apothekerverbandes Pharmasuisse. Damit hat sie die Leitung mitten in der Corona-Pandemie übernommen. Die Freiburgerin ist studierte Pharmazeutin und hat ihre Karriere in der Berner Zähringer Apotheke begonnen. Sie war schon vor ihrer Präsidentschaft während fast 20 Jahren bei Pharmasuisse tätig. Ruggli kommt aus einer Grossfamilie, gemeinsam mit ihrem zweiten Mann hat sie acht Kinder und mehrere Enkelkinder. Zur Familie gehört auch SBB-Chef Vincent Ducrot (60): Er ist Rugglis älterer Bruder.
Apropos Paracetamol: Es fehlt insbesondere auch an günstigen Medikamenten. Weshalb?
Manche Medikamente sind so billig, dass sie nicht mehr rentabel sind. Und wenn die Kosten steigen, ist es nicht mehr kostendeckend. Dann wird das Medikament vom Markt genommen. Für eine Preiserhöhung bei Medikamenten gibt es in der Schweiz keinen automatischen Mechanismus, nur für Preissenkungen. Aber jetzt wäre es nötig, dass Preisanpassungen in beide Richtungen möglich sind.
Aber die Gesundheitskosten steigen sowieso schon stark an. Jetzt sollen auch die günstigen Medikamente noch teurer werden?
Die Versorgungssicherheit hat einen Preis, dessen müssen wir uns bewusst sein. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass, wenn günstige Medikamente wegen fehlender Rentabilität aus dem Markt verschwinden, diese häufig durch neuere teurere Medikamente ersetzt werden müssen.
Wenn Patienten ihre Medikamente nicht mehr in der Apotheke erhalten, probieren sie diese vielleicht auch im Ausland über das Internet zu bestellen.
Ja, das wird gemacht. Aber es besteht ein Risiko von Fälschungen. Besonders jetzt – in diesem unsicheren Umfeld – ist die Wahrscheinlichkeit noch grösser.
Wie erkenne ich eine Fälschung?
Das ist nicht immer einfach. Swissmedic hat bereits Fälschungen entdeckt, wo in einem Medikament anstatt 50 nur 10 Milligramm des Wirkstoffs enthalten waren. Die Verpackung und die Tabletten sahen aber genau gleich aus. Wenn ein Import notwendig ist, dann lieber über einen Arzt oder Apotheker. Aber wenn das Medikament bei uns fehlt in einer Extremsituation wie der jetzigen, dann fehlt es eigentlich in ganz Europa.