Als die beiden Praxisassistentinnen kurz nach 13 Uhr das Poltern von Skischuhen im Treppenhaus hören, ahnen sie bereits: Sie können gleich den Röntgenapparat einschalten. Der junge Mann, der die Praxis betritt, ist an seiner roten Kleidung sofort als Skilehrer zu erkennen. «Mich hats gerade bös vernietet», berichtet er mit schmerzverzerrtem Gesicht.
Wenige Minuten später stellt Arzt Joachim Friese (58) mit einem Blick aufs Röntgenbild fest: Das linke Schlüsselbein ist gebrochen. Während er mit dem sichtlich mitgenommenen Skilehrer das weitere Vorgehen bespricht, lädt ein Schneetaxi den nächsten Verletzten in der Praxis ab. Kollision auf der Piste. Im oberen Stock studiert Doktor Gregor Müller (65) derweil die Laborwerte eines kleinen Patienten, der mit seiner Mutter zur Untersuchung vorbeigekommen ist.
Über 5500 Konsultationen pro Saison
Nach der Mittagszeit herrscht in der Arztpraxis im Chalet Almenrausch auf der Walliser Bettmeralp jeweils Hochbetrieb. Die Leute sind hungrig, erschöpft, man passt nicht mehr so auf – und schon kommts auf der Piste zum Unfall. 30 Patienten, hauptsächlich Touristen, gehen in der Hochsaison in der Praxis im Schnitt täglich ein und aus. Vom verstauchten Knöchel bis zum bösartigen Tumor: Über 5500 Konsultationen macht das pro Winter.
Auf der Bettmeralp ist man heilfroh, den «Bergdoktor» zu haben. Es ist schwierig, jemanden zu finden, der den harten Job machen will – und gut machen kann. Kinderkrankheiten, Schwangerschaften, Krebsdiagnosen und vor allem ganz viele Unfälle. Er sei im Grunde eine Poliklinik in Personalunion, sagt Gregor Müller. Nun, mit 65, würde der Deutsche gern in Pension gehen, auch, weil ihn einige gesundheitliche Beschwerden plagen.
Neue Regel wird zum Verhängnis
Einen Nachfolger hat er mit seinem Landsmann Joachim Friese gefunden. Doch da gibts ein Problem: Friese darf allein keine Schweizer Patientinnen und Patienten behandeln. Der Grund ist ein neues Gesetz, das erst seit vergangenem Jahr in Kraft ist. Seither gilt die Bedingung, dass ein Arzt mindestens drei Jahre an einem Spital oder einer anderen anerkannten Weiterbildungsinstitution im Schweizer Gesundheitswesen gearbeitet haben muss, damit er mit den Krankenkassen abrechnen darf.
Friese erfüllt diese Bedingung nicht, obwohl der erfahrene Arzt vor seinem Umzug ins Wallis schon mehrere Jahre in der Schweiz gearbeitet hat. «Die Regelung kam unerwartet. Ich war mir nicht bewusst, dass das so schwierig wird», sagt er. Müller und Friese arbeiten nun seit vergangenem Dezember zu zweit in der Praxis, die Abrechnungen für Schweizer Patienten laufen über Müller. Eine Notlösung für diese Saison.
Gemeindepräsident kämpft für Praxis
Die beiden Ärzte haben kein Verständnis für die neue Vorschrift, die nicht nur auf der Bettmeralp die Praxis-Übernahme erschwert. Es könne doch nicht sein, dass man über ein Jahr brauche, um eine Lösung zu finden, regt sich Müller auf. «Wenn wir hinschmeissen, knallt es hier!»
Auch Gemeindepräsident Martial Minnig (37) warnt, dass die Schliessung der Praxis folgenschwere Konsequenzen hätte, auch für den Tourismus. Er ist darum schon vor vielen Monaten beim Kanton vorstellig geworden und hat für eine Lösung gekämpft. Auf der Bettmeralp und der Riederalp, die ebenfalls zum Einzugsgebiet der Praxis gehört, seien in der Hochsaison mehr als 10'000 Menschen. «Sie alle sind auf die Praxis angewiesen.»
Eine dieser Anwohnerinnen ist Marion von Delft (35). Nach einer Nierentransplantation muss die zweifache Mutter ungefähr alle acht Wochen zur Kontrolle zum Arzt. «Müsste ich jedes Mal ins Spital nach Brig oder Visp, wäre das mit einem viel grösseren organisatorischen Aufwand verbunden», sagt sie.
Ganze Schweiz betroffen
Allein im Wallis gibt es laut Angaben des Kantons rund 20 Ärztinnen und Ärzte, denen die Behörden wegen der neuen Zulassungsregel die Zulassung verweigert haben. Und das, während Mediziner gerade in den Randregionen dringend gesucht sind. Auch im Rest der Schweiz ärgert man sich über das neue Gesetz. Man kenne mehrere Fälle, in denen die Eröffnung oder Übernahme einer Praxis wegen der Zulassungsbedingungen hängig sei, teilt beispielsweise der Kanton Jura mit.
Die Regelung, die für rote Köpfe sorgt, kommt aus dem Parlament. National- und Ständerat wollten damit verhindern, dass immer mehr und mehr Ärztinnen und Ärzte Praxen eröffnen und die Gesundheitskosten weiter in die Höhe schiessen. Doch dabei liess man völlig ausser Acht, dass es in einigen Fachbereichen und je nach Region nicht zu viele, sondern viel zu wenige Mediziner gibt. Und die Verschärfung dort zu grossen Problemen führt.
Parlamentarier räumen Versäumnis ein
Der Walliser Nationalrat Philippe Nantermod (38, FDP) räumt ein, bei der Revision der Zulassungsregeln möglicherweise einen Fehler gemacht zu haben. SP-Gesundheitspolitikerin Barbara Gysi (58) sagt, man habe damals «primär die Überversorgung mit Spezialisten im Fokus» gehabt und die Problematik der Unterversorgung nicht berücksichtigt. Die Politiker bringen zu ihrer Verteidigung vor, dass dieses Problem seit dem Parlamentsentscheid viel akuter geworden sei.
Erst nachdem das neue Gesetz in Kraft getreten war und Kantone und Ärzte Alarm geschlagen hatten, sah man in Bern, was man angerichtet hatte. Schon wenige Monate nach Inkrafttreten machte sich die Gesundheitskommission des Nationalrats daran, die strittige Vorschrift zu entschärfen. Die Idee: Man will eine Ausnahmeregelung ins Gesetz flicken – die beispielsweise Doktor Friese auf der Bettmeralp die Übernahme der Praxis erlauben würde.
Ende März soll Änderung beschlossen sein
Am Dienstag wird sich der Nationalrat nun über den Vorschlag beugen – und schon zwei Tage später der Ständerat. Weil die Zeit drängt, wurde das Geschäft für dringlich erklärt. Es soll noch in der Frühlingssession unter Dach und Fach gebracht werden. Einigen sich der Stände- und der Nationalrat auf eine Anpassung, würde diese wohl noch vor Ende März in Kraft treten, wie das Bundesamt für Gesundheit bestätigt. Und auf der Bettmeralp könnte Doktor Müller die Praxis bald an seinen Nachfolger übergeben.
Nicht nur Friese, auch Müller würde sich sehr darüber freuen. «Statt Patienten möchte ich künftig meine Enkel betreuen», erzählt der Arzt. Ausserdem hat er noch andere Pläne: «Ich will nach Südamerika fliegen und Rinder impfen.» Ganz die Finger von der Medizin kann Müller auch nach der Pensionierung nicht lassen.