Betten in Gängen, wartende Patienten, fehlende Medikamente. Wer sich in diesen Tagen in ein Schweizer Spital verirrt, wähnt sich in einer Dokumentation über das marode Gesundheitswesen in Grossbritannien oder schlimmer. Es scheint, als sei das Schweizer Gesundheitssystem selbst zum Patienten geworden.
Sicher, viele der Probleme sind Corona-Nachwehen – vom überlasteten Personal bis hin zur höheren Anfälligkeit für Viren durch zwei Jahre Hygienemassnahmen. Doch die Ursachen für die Engpässe liegen tiefer und reichen weiter zurück als drei Corona-Jahre. Verschiedene Faktoren haben zur aktuellen Notlage beigetragen.
Selbst verschuldeter Personalmangel
Der Schweiz fehlt medizinisches Personal – und das Problem wird grösser, wie eine Studie der Unternehmensberatung PWC zeigt: 2040 werden im Gesundheitswesen knapp 45'000 Arbeitskräfte fehlen, 39'500 Pflegende und 5500 Ärzte und Ärztinnen.
Die Schweiz versucht, das auszugleichen, beispielsweise mit einer Erhöhung der Studienzahlplätze für Hausarztmedizin, wo das Problem besonders gross ist. Oder mit der Aufwertung des Pflegeberufs. Reichen wird das nicht. Weil wir älter werden und mehr medizinische Versorgung brauchen, wie der ehemalige Basler Kantonsarzt Thomas Steffen (61) sagt: «Der Personalmangel war seit Jahrzehnten klar – da musste man nur die demografische Entwicklung anschauen.»
Paul Sailer (32), Director Beratung Gesundheitswesen bei PWC Schweiz, stellt eine weitere, harte Diagnose: Der Ärztemangel sei von der Politik in Kauf genommen worden. «In der Vergangenheit hat die Schweiz entschieden, dass sie substanziell Ärztinnen und Ärzte importiert, statt alle notwendigen Fachkräfte selbst auszubilden.» Weil man sich die Kosten für das Medizinstudium – die teuerste Ausbildung, die es gibt – sparen wollte. «Die Importstrategie ging lange gut, scheint nun aber an ihre Grenzen zu kommen.»
Mehr Geld wird nicht helfen, ist Gesundheitspolitikerin Ruth Humbel (65) überzeugt. «Mir sagen Spitalchefs, dass Lohnerhöhungen oft dazu führen, dass Pflegefachpersonen ihre Pensen reduzieren», sagt sie. Zwar könne man die Leute nicht in höhere Pensen zwingen. «Aber vielleicht müsste man die Höhe von Zuschlägen oder Kita-Zustüpfen an die Pensen knüpfen.»
Falsche Anreize
Das Schweizer Gesundheitswesen ist hochkomplex – weil 26 Kantone zuständig sind, zig Lobbys mitmischen und sogar die Finanzierung über mehrere Quellen – Prämien, Steuergelder und aus dem Hosensack der Patienten – läuft. Fehlanreize bleiben da nicht aus. Nur ein Beispiel: Krankenkassen und Kantone teilen sich die Kosten für stationäre Behandlungen im Spital. Kosten, die für ambulante Behandlungen anfallen, müssen jedoch die Kassen und somit die Prämienzahler allein berappen – selbst wenn im Spital behandelt wird.
Ruth Humbel kämpft seit Jahren dafür, dass sich das ändert: «Ob eine Behandlung ambulant oder stationär durchgeführt wird, sollte ein rein medizinischer Entscheid sein. Ist es aber meistens nicht.» Statt zu fragen, was besser für den Patienten sei, werde gefragt, wovon man mehr profitiere. «Für ein Spital lohnt es sich einfach mehr, die Leute dazubehalten.»
Kein Sinn für Digitales
Die Schweiz mag Papier, kann aber mit Bits und Bytes wenig anfangen. Beispiel elektronisches Patientendossier (EPD): Seit 2012 sollte das System laufen, es läuft bis heute nicht. Und es ist falsch aufgegleist, wie Sailer sagt: «Die ursprüngliche Idee für das EPD hätte Behandlungsqualität und Effizienz gesteigert. Was wir nun haben, ist die teuerste PDF-Sammlung der Welt.»
Echte Digitalisierung könnte vieles effizienter machen. «Eine Assistenzärztin hat mir erzählt, dass sie bei einem neuen Patienten einen halben Nachmittag damit verbringt, Ärzten nachzutelefonieren, um die Krankheitsgeschichte zu kennen», erzählt Humbel. Mit funktionierendem EPD liesse sich dieser Aufwand sparen. Die Digitalisierung des Gesundheitswesens aber habe Bundesrat Alain Berset (50) nie interessiert, so die Aargauerin, «wahrscheinlich, weil man da keine Lorbeeren holen kann». Sie nimmt aber auch Spitäler, Ärzte und Heime in die Pflicht: «Man muss nicht immer auf die Politik warten, um Prozesse zu optimieren.»
Immer nur Kosten, Kosten, Kosten
Die Corona-Krise hat gezeigt, dass wir eine jederzeit verfügbare, hochstehende Gesundheitsversorgung wollen. Vor der Pandemie wurde immer nur über Kosten geredet. Insbesondere Spitäler wurden auf Effizienz getrimmt – mit Fallpauschalen und mehr Wettbewerb. «Im System herrscht grosser Kostendruck», so Steffen. Das habe die Fehlversorgung zum Teil gar noch erhöht, sagt Sailer – weil mehr Eingriffe gemacht werden, die sich rechnen. Die Folge des Wettbewerbs war dennoch nicht wie erhofft eine Strukturbereinigung. «Stattdessen werden unrentable Spitäler teilweise weiterhin von den Kantonen über Finanzspritzen oder sonstige Bevorteilungen am Leben erhalten.» Jüngstes Beispiel dafür ist das Kantonsspital Aarau, das gerade erst mit 240 Millionen Franken vom Kanton gerettet werden musste.
Humbel fordert innovative Ansätze. So sollten sich Regionalspitäler neu aufstellen und zu regionalen Gesundheitszentren werden – «mit klassischen Hausärzten, Spitex, Geriatrie – und darüber hinaus noch ein paar Betten haben. So könnte man die Bevölkerung rundherum versorgen und Ressourcen besser nutzen.»
Wir wollen alles und bekommen zu viel
Man kann der Politik vieles vorwerfen – ein Teil des Problems ist aber hausgemacht. Studien schätzen, dass 10 bis 20 Prozent aller Eingriffe unnötig sind. «In der Schweiz werden im internationalen Vergleich mehr orthopädische und kardiologische Eingriffe gemacht», nennt Unternehmensberater Sailer zwei Beispiele. Warum, wisse man eigentlich nicht. «Hier könnte man steuern, indem man Patientenwohl mehr in den Fokus rückt – also: Verbessert ein Eingriff die Lebensqualität des Patienten wirklich?»
Das fragt sich auch Humbel: «Regelmässige Check-ups oder zunehmende Kontrolluntersuchungen bei gesunden Säuglingen: Muss das wirklich immer sein?» Sie sagt, es gebe heute ein Sicherheitsbedürfnis jenseits des gesunden Menschenverstands. Das habe auch mit der gestiegenen Anspruchshaltung in der Bevölkerung zu tun.
Ex-Kantonsarzt Steffen sieht das Problem aber auch bei der fehlenden Prävention – hier schneide die Schweiz im internationalen Vergleich schlecht ab. «Da muss man sich nicht wundern, wenn dann Bagatellfälle im Notfall landen», sagt er. Für viele sei das Schweizer dezentrale Gesundheitssystem ein Buch mit sieben Siegeln: «Besonders Migranten – und das können auch britische Expats sein – verstehen nicht, wie es bei uns funktioniert. Da könnten wir deutlich mehr machen.»
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Viele Rezepte also für den Patienten Gesundheitswesen. Wobei: Todkrank ist er nicht. «Die Engpässe im Personal unterscheiden sich nach Region, Fachgebiet und Spital sehr stark. Während die einen überlastet sind, würden sich andere mehr Patientinnen wünschen», sagt Sailer. Eine bessere Koordinierung wäre wünschenswert. Bei mehreren Staatsebenen, 26 Kantonen und zig Lobbys ist das aber nicht ganz einfach.