Es wird eng auf der Notfallstation des Spitals Visp. Inmitten des Gangs stehen seit neustem fünf Spitalbetten. Sie sollen Abhilfe schaffen – die Lage auf der Notfallstation könnte prekärer nicht sein. Dem Pflegedirektor des Spitalzentrums Oberwallis, Kilian Ambord (53), sind die Sorgenfalten ins Gesicht geschrieben: «In den letzten Monaten waren sämtliche Betten unserer beiden Standorte Visp und Brig besetzt», so der Walliser zu Blick. Und das, obwohl die Skisaison noch nicht einmal begonnen hat. So etwas habe er in seiner ganzen Karriere noch nie erlebt.
Immer häufiger müsse man deshalb Patienten, die keine akute Behandlung mehr benötigten, auf der Notfallstation behalten, da sowohl auf den anderen Stationen, als auch in den Altersheimen der Platz fehlte. «Teilweise haben bis zu 50 Patienten nur darauf gewartet, dass sie verlegt werden.» Die Folge: Notfallbetten, die fehlen.
So wie im Spital Visp sieht es derzeit in den meisten Spitälern aus. Das Schweizer Gesundheitssystem wankt – und zwar mehr denn je. In sämtlichen Bereichen wimmelt es nur so von Alarmmeldungen. Die Überlastung des Gesundheitswesens sei «historisch» und die allgemeine Lage «völlig hoffnungslos», findet Pierre-André Wagner (61), Leiter des Rechtsdienstes des Schweizer Berufsverbands der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner. Und: «Die Probleme ziehen sich entlang der gesamten Versorgungskette», so Wagner zu Blick. Bei der Krise handle es sich um einen «perfect storm» [perfekten (Gewitter-)Sturm], in dem jetzt alles zusammenkomme.
RS-Virus, Influenza und Corona gleichzeitig
Die Gründe für die hohe Auslastung der Spitäler sind vielschichtig. Jüngstes Beispiel sind die Kinderspitäler, die wegen der starken Ausbreitung des RS-Virus aus allen Nähten platzen.
Seit Oktober gehen die Ansteckungen mit dem viralen Infekt, der Säuglingen und Kindern Schwierigkeiten beim Atmen bereitet, durch die Decke. Pädiatrie Schweiz schreibt von «absoluten Rekordzahlen»: Während die Anzahl der mit dem RS-Virus erkrankten Kinder im Dezember 2021 bei 100 lag, wurden diesen Dezember knapp 400 Infektionen nachgewiesen.
Auch in Visp ist das RS-Virus Thema – und wie bei allen anderen Spitälern nicht die einzige Epidemie, die das Personal auf Trab hält: «Aktuell beschäftigen uns das RS-Virus, die Influenza und Corona gleichzeitig», erklärt Andreas Frasnelli (44), Chefarzt der Notfallstation des Spitals Visp. Dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) zufolge hat sich die Zahl der Grippefälle innerhalb einer Woche mehr als verdoppelt. Und: Die Grippewelle hat die Schweiz dieses Jahr rund fünf Wochen früher als sonst im Griff.
Weniger Personal, aber mehr Patienten
Verschärft wird die aktuelle Lage durch den chronischen Fachkräftemangel in sämtlichen Spitälern, der es fast wöchentlich in die Schlagzeilen schafft. Laut dem Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner kehren rund 300 Pflegende monatlich dem Beruf den Rücken. Zu gross die Erschöpfung und zu klein die Bereitschaft, unter Bedingungen wie Dauerstress, unregelmässigen Arbeitszeiten und Überstunden weiterzuarbeiten.
Auch abseits der Akutmedizin fehlt es an allen Ecken und Enden: Wie Francesca Heiniger von Spitex Schweiz auf Anfrage von Blick mitteilt, herrscht auch in der Spitex ein zunehmender Fachkräftebedarf. Dieser ist regional allerdings unterschiedlich.
Der Personalnotstand hat fatale Folgen für die Gesundheitsversorgung. Das spürt auch Kilian Ambord: «Wenn früher während der Wintersaison viel los war, konnten wir immer kurzzeitig aufstocken.» Das sei nicht mehr möglich: «Uns fehlt schlichtweg das Personal.» Statt aufzustocken, müssen sie Betten schliessen.
Davon kann auch Philipp Lutz (57) vom Kantonsspital St. Gallen ein Lied singen: «Wenn alle Stellen besetzt wären, könnten wir 60 bis 80 mehr Betten in Betrieb nehmen», so der Mediensprecher zu Blick. Die Belegung der Betten sei aktuell deutlich höher als noch vor der Pandemie.
Ähnlich sieht es beim Inselspital Bern aus. Die Notfallstationen im Kanton Bern sind seit Monaten maximal belegt und laufen teilweise über der Kapazitätsgrenze, teilt Mediensprecherin Petra Ming auf Anfrage von Blick mit. Dass die Notfälle am Limit laufen, musste auch Thomas Disch (55) aus Schaffhausen am eigenen Leib erfahren. Sein Aufenthalt im Kantonsspital Schaffhausen wurde zum Horrorerlebnis.
Bei der massiven Überlastung der Spitäler spielt jedoch auch das grössere Patientenaufkommen eine Rolle. Der Anstieg der Auslastung der Betten ist laut Ronald Alder des Verbands der Zürcher Krankenhäuser (VZK) zufolge «massiv»: «Während in den Zürcher Spitälern vor der Pandemie rund 80 Prozent der Betten belegt waren, liegt die Zahl heute bei 90 oder gar mehr Prozent», so Alder zu Blick.
Hausärzte-Mangel macht sich auf Notfallstationen bemerkbar
Dafür, dass die Spitäler mehr Patienten haben, gäbe es zwei Gründe: «Erstens wird unsere Gesellschaft immer älter und benötigt daher mehr medizinische Behandlung. Zweitens, führt der Mangel an Hausärzten wiederum dazu, dass die Leute schneller in den Notfall gehen», weiss Alder.
Wie Philippe Luchsinger, Präsident des Haus- und Kinderärzteverbands (MFE), schon im Sommer zu Blick sagte, habe der Verband bereits vor 20 Jahren auf den Hausärzte-Mangel aufmerksam gemacht. Verbessert habe sich die Lage aber kaum. Dem Hausarzt-Präsidenten zufolge braucht es in den nächsten Jahren deshalb zusätzlich zwischen 3000 und 4000 Haus- und Kinderärzte.
Auch in Visp mangelt es an Haus- und Kinderärzten. «Im ganzen Oberwallis haben wir nur fünf Kinderärzte – und das bei wachsender Bevölkerung», sagt Pflegedirektor Kilian Ambord. Das habe massive Auswirkungen auf die Notfallstation: Nur schon im vergangenen Jahr zählte das Spitalzentrum Oberwallis über 21'000 Patienten auf dem Notfall. «Das sind 8,5 Prozent mehr als im Vorjahr», sagt Andreas Frasnelli. Die Tendenz sei steigend.
«Die ganze Situation zieht einen Rattenschwanz nach sich», so Ambord. Mit den Wartekojen in Visp wolle man dem nun entgegenwirken. Optimal sei diese improvisierte Lösung aber nicht: «Die Betten in der Hauptdurchgangsachse des Notfalls könnten an Szenarien in einem Drittweltland erinnern.» Ob die fünf Betten reichen, um den kommenden Ansturm der Skisaison aufzufangen, werde sich zeigen.
Wann und ob sich die schweizweite Situation normalisieren wird, weiss niemand. Pierre-André Wagner vom Pflegeverband zufolge wird sich nichts zum Besseren wenden, solange die Politik ihre Verantwortung nicht wahrnehme: «Ich sehe kein Licht am Ende des Tunnels», lautet Wagners düstere Prognose.
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