Am letzten Wochenende begann der sieben Monate alte Avi zu husten. Dann kam das Fieber. Die Atmung wurde schneller, der Säugling war erschöpft. Stéphanie Sutter (37) aus Liestal BL brachte ihren Sohn zur Kinderärztin. Diagnose: Respiratorisches Synzytial-Virus (RSV). Der virale Infekt der Atemwege macht unseren Kleinsten zu schaffen und grassiert seit Wochen in der Schweiz.
Am Mittwoch brachte eine Ambulanz den kleinen Avi ins Universitäts-Kinderspital von Basel. Nach drei Stunden in der überfüllten Notaufnahme erhielten Mutter und Kind ein Zimmer. Seither wird Avi rund um die Uhr medizinisch betreut.
Tückisches RS-Virus
«Die Pflegefachkräfte machen einen unglaublichen Job», sagt Stéphanie Sutter. «Sie begleiten und unterstützen nicht nur Avi, sondern auch mich.» Sie habe nie Angst gehabt, dass Avi es nicht schaffe, sagt Sutter. «Aber es waren belastende Tage. Es ging alles sehr schnell.»
Das sei das Tückische am RS-Virus, sagt Caroline Stade (55), Leiterin Pflegedienst am Basler Kinderspital. «Die Säuglinge werden in kurzer Zeit schwer krank.» Stade arbeitet seit 35 Jahren in der Pflege, doch eine solche Belastung hat sie noch nie erlebt. Das RS-Virus und die zunehmenden grippalen Infekte setzen das Kinderspital massiv unter Druck. «Die Betten sind voll. Jeden Tag fallen Angestellte aus. Das Personal kämpft mit Stress und Müdigkeit.»
Das Kinderspital hat die meisten planbaren stationären Eingriffe verschoben. So wurde der Chirurgie-Flügel frei – und mit ihm Personal, das sich jetzt ebenfalls um die kleinen RSV-Patienten kümmert.
Grosser Teil ambulanter Behandlungen
Damit ist der Notstand aber nicht aus der Welt. Denn in den Kinderspitälern machen die stationären Behandlungen nur einen kleinen Teil des Gesamtvolumens aus.
Der grosse Brocken sind die ambulanten Behandlungen – von der Notfallaufnahme über die Blutentnahme bis zum Beratungsgespräch. Und damit hängt ein Problem zusammen, das weit über den aktuellen Notstand hinausreicht: In diesem Bereich verlieren die Kinderspitäler täglich haufenweise Geld. «Jede ambulante Behandlung erzeugt ein Defizit», sagt Caroline Stade.
Verantwortlich dafür ist der Ärztetarif Tarmed. Er legt fest, was ambulante Leistungen kosten dürfen. 2014 und 2018 griff Gesundheitsminister Alain Berset (50) in diesen Tarif ein und verordnete eine Reduktion, um Kosten zu sparen.
Ein Viertel der Kosten nicht gedeckt
Was in der Erwachsenenmedizin bestenfalls zu Kostensenkungen führt, bedeutet für die Kinderspitäler allerdings massive Verluste: Die Behandlung von Kindern ist viel aufwendiger als diejenige von Erwachsenen – doch das aktuelle Tarifsystem berücksichtigt das nicht. Die Folge: Ein Viertel der Kosten ist nicht gedeckt. Die sechs grossen Kinderspitäler in St. Gallen, Zürich, Basel, Bern, Lausanne VD und Genf machen zusammen jedes Jahr 60 Millionen Franken Defizit im ambulanten Bereich. Tendenz steigend.
Stiftungen, Spender und Trägerkantone müssen die Löcher stopfen. Deshalb machen sie seit 2018 Druck in Bern. 2020 segnete das Parlament eine Motion zur Finanzierung der Kinderspitäler ab, die Alain Berset auffordert, gegen das Millionenloch vorzugehen. Der Gesundheitsminister hatte bis im letzten September Zeit, die Motion umzusetzen. Doch er tat nichts.
Vorstösse aus dem Parlament
Ende November reichte der St. Galler Mitte-Ständerat Benedikt Würth (54) einen weiteren Vorstoss ein. Würth will vom Bundesrat wissen, warum nichts passiert. Im Gegensatz zu anderen Bereichen hätten die Kinderspitäler in den letzten Jahren die Strukturen optimiert. «Die interkantonale Zusammenarbeit funktioniert», sagt Würth. «Es darf nicht sein, dass ausgerechnet die Kinderspitäler für die Kostenexplosion im Gesundheitswesen abgestraft werden.»
Der Basler Regierungsrat Lukas Engelberger (47) stösst ins gleiche Horn. «Der Bundesrat muss reagieren», sagt der Präsident der Gesundheitsdirektorenkonferenz im Interview mit SonntagsBlick.
Jetzt machen auch die Kinderspitäler Druck. «Die Tarifeingriffe von 2014 und 2018 sind verantwortlich für die desolate finanzielle Lage der Kinderspitäler im ambulanten Bereich», sagt Manfred Manser (72), Präsident des Basler Kinderspitals. Doch darin liege auch eine Chance: «Bundesrat Alain Berset hat die Tarifeingriffe per Verordnung umgesetzt. Er kann sie auch wieder korrigieren.»
Neues Tarifsystem gefordert
Der Gesundheitsminister müsse sich jetzt an die Umsetzung der Motion zur Finanzierung der Kinderspitäler machen und die Einführung des neuen Tarifsystems Tardoc vorantreiben, sagt Manser. «Das wäre eine massive Erleichterung.» Tardoc würde die Defizite der Kinderspitäler halbieren. Doch die Tarifpartner werden sich nicht einig. «Die Krankenkassen verstecken sich hinter dem Bund und dem Preisüberwacher», sagt Manfred Manser. «Und der Bund versteckt sich hinter den Tarifpartnern.»
Vielleicht kommt doch noch Bewegung in die Sache. Im Herbst wandte sich Allkids, die Allianz der Kinderspitäler St. Gallen, Zürich und Basel, mit einem Brief an Alain Berset – und der Gesundheitsminister hat reagiert: Ende Januar empfängt er die Vertreter der Kinderspitäler in Bern zum Gespräch. «Wir sind froh um dieses Treffen und hoffen sehr auf einen Kurswechsel», sagt Manfred Manser.
«Die Zeit drängt»
Das tut auch Bettina Kuster (60), Direktorin Pflege des Universitäts-Kinderspitals Zürich. Dort fallen zurzeit nicht nur 50 Pflegefachkräfte krankheitsbedingt aus. Es sind auch 30 Stellen unbesetzt. Hinzu kommt der Tarifdruck: «Unsere Tage sind dicht getaktet», sagt Kuster. «Aber wir stossen an Grenzen. Wir machen alles ambulant, was möglich ist.» Das sei besser für die Kinder und die Eltern. «Aber es bedeutet auch mehr Aufwand bei der Pflege – wofür wir dann finanziell abgestraft werden.»
Bersets Departement verweist auf Anfrage auf laufende Gespräche.
Die Basler Pflegeleiterin Caroline Stade sagt: «Die Zeit drängt. Wir brauchen dieses Geld.»