Der Pflege-Beruf wird immer komplexer
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Schlechte Arbeitsbedingungen:Der Pflege-Beruf wird immer komplexer

Katharina Fierz, Leiterin des ZHAW-Instituts für Pflege
«Wer die Leben wirklich rettet, sind die Pflegenden»

Sie weiss, was den Pflegenden auf der Seele brennt, kennt den Beruf aus dem Effeff: Katharina Fierz (60). Die Leiterin des ZHAW-Instituts für Pflege spricht im Interview über die Pflege-Initiative, die hohe Ausstiegsquote und die breite Impfskepsis in der Branche.
Publiziert: 13.11.2021 um 15:10 Uhr
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Aktualisiert: 13.11.2021 um 22:46 Uhr
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Katharina Fierz (60) leitet seit gut drei Jahren das Institut für Pflege an der Zürcher Fachhochschule für Angewandte Wissenschaften.
Foto: Thomas Meier
Rebecca Wyss

Vor gar nicht so langer Zeit klatschte die halbe Schweiz fürs Pflegepersonal, man war dankbar. Was ist davon bis heute übrig geblieben?
Katharina Fierz: Das Klatschen ist sicher eine Anerkennung für die Leistung aller Pflegenden. Aber ich dachte schon damals: Das ist doch wahrscheinlich ein Muttertagsphänomen. 364 Tage krampft die Mutter, alle nehmen sie für selbstverständlich, und an einem Tag bekommt sie das Frühstück ans Bett gebracht, und die Kinder singen für sie. Es überrascht mich nicht, dass in der Pflege danach nicht viel passiert ist.

Wo steht die Pflege heute?
Die Pflege steht unter Druck. Weil es zu wenig ausgebildete diplomierte Pflegefachleute gibt. Weil der Job immer komplexer und vielschichtiger geworden ist. Auch weil die Leute älter werden und es immer mehr Mehrfacherkrankungen gibt. Die Pflege war unsichtbar, bis Corona kam. Man spürt sie ja meist nur dann, wenn sie schlecht ist oder fehlt.

Die Pflege-Expertin

Das ist selten. Katharina Fierz (60) ist beruflich in zwei Welten zu Hause: in der Praxis und in der Forschung. Dies zeichnete sich schon früh ab. Fierz studierte erst Anglistik, dann Biologie, brach aber beides ab. Erst spät entschied sie sich für eine Berufsausbildung. Sie wurde Psychiatrie-Pflegefachfrau, arbeitete viele Jahre auf dem Beruf, wollte aber irgendwann mehr: mehr Wissen, mehr Forschung. Anfang der Nullerjahre gehörte sie zum ersten Studienjahrgang der Pflegewissenschaft an der Uni Basel, dort doktorierte sie auch. Seit 2018 leitet die Professorin das Institut für Pflege an der ZHAW in Winterthur. Fierz lebt in Zürich.

Foto: Thomas Meier. Winterthur, 10.11.21. Grosses Interview mit Katharine Fierz, Leitet Pflegestudiengang in Winterthur, ist Expertin in Sachen Pflegeinitative.
Foto: Thomas Meier. Winterthur, 10.11.21. Grosses Interview mit Katharine Fierz, Leitet Pflegestudiengang in Winterthur, ist Expertin in Sachen Pflegeinitative.
Thomas Meier

Das ist selten. Katharina Fierz (60) ist beruflich in zwei Welten zu Hause: in der Praxis und in der Forschung. Dies zeichnete sich schon früh ab. Fierz studierte erst Anglistik, dann Biologie, brach aber beides ab. Erst spät entschied sie sich für eine Berufsausbildung. Sie wurde Psychiatrie-Pflegefachfrau, arbeitete viele Jahre auf dem Beruf, wollte aber irgendwann mehr: mehr Wissen, mehr Forschung. Anfang der Nullerjahre gehörte sie zum ersten Studienjahrgang der Pflegewissenschaft an der Uni Basel, dort doktorierte sie auch. Seit 2018 leitet die Professorin das Institut für Pflege an der ZHAW in Winterthur. Fierz lebt in Zürich.

Wie meinen Sie das?
Studien belegen, dass gut ausgebildetes Pflegepersonal Komplikationen verhindern kann. Diplomierte Pflegefachleute können Lungenentzündungen, Wundliegen verhindern oder gefährliche Veränderungen des Gesundheitszustands erkennen.

Malen Sie nicht zu schwarz? Die Schweiz hat eines der besten Gesundheitssysteme der Welt.
Ja, aber bereits jetzt können Pflegende nicht mehr so pflegen, wie es nötig wäre. Die Kosten dafür tragen Patientinnen und die Pflegenden. Schauen Sie sich mal die hohe Fluktuation in diesen Berufen an. 40 Prozent steigen aus. Damit geht Wissen und Kompetenz verloren. Es fehlt an Expertinnen. Man muss ständig wieder von vorne anfangen. Darunter leiden Qualität und Patientensicherheit.

Nachwuchs gibt es doch aber genug, die Berufslehre Fachangestellte Gesundheit (FaGe) boomt.
Glauben Sie ja nicht, man könne diplomierte Pflegefachleute durch weniger gut ausgebildetes Personal wie zum Beispiel FaGes ersetzen.

Fachangestellte Gesundheit (FaGe) und diplomierte Pflegefachperson

Rund 214'000 Menschen in der Schweiz sind in Pflegeberufen tätig. Die Hälfte davon sind diplomierte Pflegefachleute. Die Ausbildung zur diplomierten Pflegefachperson HF oder FH folgt meist auf eine abgeschlossene Berufslehre. Sie dauert drei Jahre. Ein Viertel der Pflegenden hat eine Berufslehre wie jene zur Fachangestellten Gesundheit (FaGe) absolviert. Die Lehre dauert drei Jahre und führt zu einem Eidgenössischen Fähigkeitszeugnis (EFZ).

Rund 214'000 Menschen in der Schweiz sind in Pflegeberufen tätig. Die Hälfte davon sind diplomierte Pflegefachleute. Die Ausbildung zur diplomierten Pflegefachperson HF oder FH folgt meist auf eine abgeschlossene Berufslehre. Sie dauert drei Jahre. Ein Viertel der Pflegenden hat eine Berufslehre wie jene zur Fachangestellten Gesundheit (FaGe) absolviert. Die Lehre dauert drei Jahre und führt zu einem Eidgenössischen Fähigkeitszeugnis (EFZ).

Warum nicht?
Diplomierte Pflegefachleute schauen sich den ganzen Patienten an. Denken vernetzt. Sie registrieren die kleinste Veränderung an ihm. Und stellen einen Zusammenhang zwischen seiner Vorgeschichte, seiner Behandlung und seinem Zustand her.

Machen Sie ein Beispiel, bitte.
Füdliputzen – klingt banal, ist aber viel mehr. Die Pflegefachfrau checkt währenddessen alles mögliche: Stuhlfarbe, -geruch, -konsistenz. Kann die Patientin auf Fragen adäquat antworten oder wirkt sie verwirrt? Sind die Bewegungen kraftvoll, bereiten sie Schmerzen? Wie sieht die Haut aus? Aus diesen Beobachtungen zieht die Pflegefachperson Schlüsse für die weitere Betreuung der Patientin. Wenn man nicht auf Diplom-Niveau ausgebildet ist, erkennt man vieles nicht. Es braucht FaGes, aber sie füllen die Lücke nicht.

Die beiden Vorlagen vom 28. November sehen nun eine Ausbildungsoffensive vor. Überhaupt ähneln sich die Pflege-Initiative und der Gegenvorschlag ziemlich. Wofür stimmen Sie?
Für die Pflege-Initiative. Anders als der Gegenvorschlag setzt sie bei den schlechten Arbeitsbedingungen an. Diese sind das Nadelöhr. Eine Studie zeigt, dass sich neun von zehn Pflegefachleuten in der Schweiz deshalb überlegen, auszusteigen. Man kann noch so viele Leute ausbilden, wenn die Arbeitsbedingungen nicht stimmen, wenden sich viele vom Beruf ab.

Zur Abstimmung vom 28. November

Bald stimmen wir über die Pflege-Initiative ab. Sie fordert eine Ausbildungsoffensive, bessere Arbeitsbedingungen und bessere berufliche Entwicklungsmöglichkeiten. Der Gegenvorschlag nimmt zwei zentrale Forderungen der Pflege-Initiative auf: einen Kredit von maximal einer Milliarde Franken für eine Ausbildungsoffensive und die Möglichkeit der Pflegefachkräfte, Leistungen direkt zulasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung abrechnen zu können. Heute müssen sie dafür eine ärztliche Anordnung einholen. Doch was der Gegenvorschlag nicht enthält: die Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Die Initiantinnen der Pflege-Initiative fordern Bundesvorgaben zur Personaldotierung in Spitälern und Heimen, höhere Löhne und dass die Pflegeleistungen über höhere Tarife besser abgegolten werden.

Bald stimmen wir über die Pflege-Initiative ab. Sie fordert eine Ausbildungsoffensive, bessere Arbeitsbedingungen und bessere berufliche Entwicklungsmöglichkeiten. Der Gegenvorschlag nimmt zwei zentrale Forderungen der Pflege-Initiative auf: einen Kredit von maximal einer Milliarde Franken für eine Ausbildungsoffensive und die Möglichkeit der Pflegefachkräfte, Leistungen direkt zulasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung abrechnen zu können. Heute müssen sie dafür eine ärztliche Anordnung einholen. Doch was der Gegenvorschlag nicht enthält: die Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Die Initiantinnen der Pflege-Initiative fordern Bundesvorgaben zur Personaldotierung in Spitälern und Heimen, höhere Löhne und dass die Pflegeleistungen über höhere Tarife besser abgegolten werden.

Pflegefachleute arbeiten viel, das ist mittlerweile allen klar. Was läuft sonst noch schief?
Vor allem die Unberechenbarkeit der Arbeitszeiten. Wenn man an eine Frühschicht noch spontan eine Spätschicht anhängen muss, was in der Praxis oft vorkommt, kann man Freizeit und Arbeit nicht mehr vereinbaren. Man vereinsamt.

Es heisst auch, der Lohn sei zu tief.
Der Lohn ist dann ein Thema, wenn der Rest nicht stimmt. Kürzlich sagte eine Pflegefachfrau, der Lohn sei ihr nicht so wichtig. Viel wichtiger sei ihr, dass sie Kolleginnen bekomme, die ihr helfen würden, die Last zu tragen.

Das klingt nach viel Idealismus. Was für Menschen ergreifen einen Pflegeberuf?
Menschen mit intrinsischer Motivation. Sie wollen einen sinnhaften Job, einen interessanten auch, mit viel Abwechslung. Sie interessieren sich für Menschen und Medizin. Pflege bedeutet, für Menschen zu sorgen.

Man kommt Menschen nahe.
Sehr. Man hat mit Kot, Erbrochenem, Schleim, Blut zu tun. Man muss den eigenen Ekel überwinden. Hinzu kommt die emotionale Nähe. Die meisten Patientinnen sind in einer bedrohlichen Ausnahmesituation, oft ist es ihnen peinlich, auf Pflege angewiesen zu sein. Sie zeigen sich, wie sie sind, in ihrer ganzen Schwäche. Das ist sehr intim. Das muss man wollen. Und aushalten können.

Wenn so viele intrinsisch motiviert sind – wenden sich deshalb so viele vom Beruf ab, weil sie enttäuscht sind?
Gut möglich. Die Konfrontation mit der Realität nach dem Studium ist heftig. Trotzdem halten viele ganz lange durch. Pflegende haben eine hohe Arbeitsmoral, einen hohen Arbeitsethos. Sie fühlen sich für die ihnen anvertrauten Patientinnen verantwortlich, wollen ihre Kolleginnen nicht hängen lassen. Sie geben erst auf, wenn sie wirklich gar nicht mehr können.

Sie selber waren viele Jahre lang Psychiatrie-Pflegefachfrau. Warum machten Sie die Ausbildung?
Ich habe immer gerne begleitet und unterstützt. Schon in meiner Familie habe ich immer Verbindungen geschaffen. Ich kann gut schwierige Situationen entschärfen und Leute beruhigen. Ich bin ein stabiler Mensch, halte viel an Instabilität aus.

Warum gerade die Psychiatrie?
Körperliche Krankheiten interessierten mich nicht. Mich faszinierten schon immer psychische Grenzerfahrungen. Die Schattenwelt.

Auf was für Menschen trafen Sie bei der Arbeit?
Menschen, die wortwörtlich ausser sich waren. Eine Frau hörte innerlich ständig eine Uhr ticken, und eine Stimme, die von hundert runterzählte – bei eins explodiert die Welt, glaubte sie. Ein junger Mann sagte mir einmal im Wahn, er könne nichts mehr essen und trinken, er sei auf der Flucht. Er meinte, er sei ein Mafiaboss und alle Taxifahrer arbeiteten für eine andere Mafia und wollten ihn umbringen. Es hatte etwas Komisches, als mir der arme Mann sagte: Du glaubst ja nicht, wie viele Taxifahrer es in Zürich gibt!

Auch Sie erlebten Brüche, mussten zum Beispiel ein Biologie-Studium abbrechen. Konnten Sie sich dadurch besser in Menschen in der Krise einfühlen?
Vielleicht. Aber vielleicht ist das auch in mir angelegt. Ich suchte immer Grenzerfahrungen, testete mich selber in Ausnahmesituationen, selbsterfahrungsmässig.

Psychologisch oder psychedelisch?
Lassen wir das offen. Was ich sagen kann: Schon das Zigarettenrauchen machte etwas mit mir. Als ich aufhörte, wurde alles bunter. Ich wurde lebendiger. Ich nahm Gefühle wie Frust und Freude stärker war. Das zu beobachten, fand ich grossartig.

Würden Sie die Ausbildung heute wieder machen?
Ja, einsteigen würde ich wieder. Aber ich würde zu denjenigen gehören, die aufhören. Der Pflegeberuf ist spannend, aber der Alltag hat sich verändert.

Was hat sich am meisten verändert?
Der wirtschaftliche Druck. Man kann eigentlich nur noch so pflegen, dass es messbar ist. Was messbar ist, kann man als Leistung einfacher abrechnen. Deshalb haben die Ärzte kein Problem, die Pflegenden aber schon. Vieles in der Pflege kann man nicht messen.

Zwischenmenschliches zum Beispiel.
Das darf man nicht unterschätzen. Studien zeigen, dass Zuwendung die Wundheilung positiv beeinflussen kann. Dazu gehört, dass man manchmal am Bett sitzt und die Hand von jemandem hält, der weint oder Angst hat. Zusammen reden, oder zusammen schweigen ist manchmal auch gut. Aber das zahlt keiner.

Früher wurden Pflegefachleute wenig ernst genommen. Ist das Image heute besser?
In den Köpfen vieler Pflegenden steckt noch immer die Idee: Ich bin nur Krankenschwester, ich bin der verlängerte Arm des Arztes, der weiss es besser. Auch in der Gesellschaft besteht das Vorurteil. Ärzte gelten als die grossen Lebensretter. Aber wer die Leben wirklich rettet, sind die Pflegenden.

Was müsste sich ändern, damit die Pflegearbeit mehr anerkannt wird?
Die Pflegefachleute sollten selber abrechnen können, wie es die Pflege-Initiative verlangt. Sie wissen selber am besten, was sie zu tun haben. Das wertet die Pflege als eigenständigen Berufsstand auf.

Themenwechsel: In manchen Spitälern und Pflegeheimen ist nur jede Zweite in der Pflege gegen Corona geimpft. Wie erklären Sie sich das?
Eine Kollegin hat die Grippe-Impfbereitschaft in der Pflege erforscht und sagte mir einmal: Weisst du, das ist für viele eine Möglichkeit, eine von Ärzten unabhängige Entscheidung zu treffen. Über die Schulmedizin verfügen die Ärzte, sie pushen diese, und viele belächeln Komplementärmedizin. Die Corona-Impfung ist nun halt ein unglückliches Ventil.

Das erstaunt, weil doch das Pflegepersonal täglich sieht, was die Schulmedizin alles heilen kann.
Manche Pflegende sind der Schulmedizin gegenüber eher skeptisch eingestellt. Sie sehen den Wert von komplementären Ansätzen, arbeiten mit Düften oder Wickel, wissen um den Wert von Beziehung oder guter Kommunikation, die in gewissen Situationen besser helfen als vieles andere. Man berührt den Patienten, widmet sich ihm. Eine Tablette kann das nicht.

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