Als die Krankenkassen im vergangenen Herbst 6,6 Prozent teurere Prämien ankündigten, schrieb selbst die sonst eher nüchterne «Neue Zürcher Zeitung» von einem «Prämienschock». In diesem Jahr droht den Versicherten ein Déjà-vu. Der Unterschied zu 2022: Es könnte alles noch viel schlimmer werden.
Aktuelle Zahlen für Januar und Februar weisen bei den Kosten pro Versichertem eine Zunahme um 7,5 Prozent aus. Treiber sind insbesondere die Medikamentenabgabe und Pflegeleistungen in Heimen.
Obwohl die ausgewertete Zeitspanne noch kurz ist, zeigt sich Santésuisse-Direktorin Verena Nold (60) von den Werten beunruhigt. Im Interview mit SonntagsBlick sagt sie: «Wenn wir nichts unternehmen, fahren wir das Gesundheitssystem an die Wand.»
Schweizer sind besorgt
Wie sehr die steigenden Prämien Familien in der Schweiz belasten, zeigt das neue Familienbarometer des Lebensversicherers Pax und Pro Familia eindrücklich. Die Themen «Krankenkassenprämien» und «Gesundheit» beschäftigen die Befragten eindeutig am meisten. Wohnkosten, Inflation oder Klimawandel rangieren in der Auflistung erst weiter hinten.
In der Erhebung gaben vier von zehn Familien an, ihr Haushaltseinkommen genüge knapp für das gemeinsame Leben. Sechs Prozent gestehen ein, dass sie mit ihrem Geld nicht über die Runden kommen. Mehr als die Hälfte der Familien bejahte, mindestens einmal aus Kostengründen auf eine medizinische oder therapeutische Behandlung verzichtet zu haben.
SVP-Nationalrätin Martina Bircher (38) zeigt sich vom abermals drohenden Prämienanstieg nicht überrascht. «In den letzten Jahren hat in unserem Gesundheitswesen ein ständiger Ausbau stattgefunden», sagt die Aargauer Gesundheitspolitikerin: die Aufnahme der Komplementärmedizin in die Grundversorgung, die 2021 angenommene Pflege-Initiative oder die Versorgungssicherheits-Initiative, die kürzlich von der Pharmabranche lanciert wurde.
Es liegt auch an den Patienten
Problematisch seien aber auch überhöhte Ansprüche, so Bircher. Dass etwa beim Neubau des Kantonsspitals Aarau nur noch Einzelzimmer vorgesehen sind, sei nicht unbedingt hilfreich, wenn man sparen wolle. Die Mentalität einzelner Patientinnen und Patienten kritisiert die Aarburger Sozialvorsteherin ebenfalls: «Wenn man wegen jeder Bagatelle auf den Notfall eilt, braucht man sich später nicht über steigende Prämien zu wundern.»
Für Bircher ist klar: «Die explodierenden Kosten im Gesundheitswesen bekommen wir nur dann in den Griff, wenn wir bei den Leistungen abspecken.» Das heisst: Elementare Behandlungen sollten von der obligatorischen Grundversicherung übernommen werden, alles andere gehöre zur Eigenverantwortung und damit in eine Zusatzversicherung.
Dass es in der Schweiz Regionen mit Überversorgung gibt, verdeutlicht der vom Bund letzte Woche veröffentlichte «Gesundheitsatlas». Die Unterschiede sind bemerkenswert – und lassen sich nicht immer medizinisch erklären. So werden etwa im Tessin fünfmal mehr Schlafmittel abgegeben als in der Innerschweiz. Und nirgendwo werden so viele Tests zur Früherkennung von Prostatakrebs durchgeführt wie in Appenzell Innerrhoden.
Was der Atlas ebenfalls zutage fördert: wie oft Behandlungen durchgeführt werden, deren Nutzen wissenschaftlich nicht erwiesen oder zumindest umstritten ist.
Hier will SP-Nationalrätin Barbara Gysi ansetzen. Oft diene eine Behandlung lediglich dazu, den Ärztinnen oder Ärzten die Taschen zu füllen, sagt die St. Gallerin zu SonntagsBlick. «Da gibt es riesiges Sparpotenzial.»
Freier Markt als Lösung?
Darüber hinaus möchte Gysi die Spitäler dem freien Markt entziehen und die Preise für Medikamente senken. Sie weiss aber, dass die Widerstände gross sind – sei es vonseiten der Pharmaindustrie, der Spezialistinnen und Spezialisten oder der Versicherer. Aber: «Kosten dämpfen kann man nun mal nicht, ohne dass es jemandem wehtut!»
Eine Beschneidung des Leistungskatalogs, wie sie Martina Bircher vorschwebt, lehnt Gesundheitspolitikerin Gysi ab. Effizienz, auch bei den Kosten, erreiche man am besten mit Aufklärung über den Nutzen einer Therapie. Gerade die Behandlung chronisch Kranker sei heute schlecht koordiniert. Das führe oftmals zu Doppelspurigkeiten und zusätzlichen Behandlungen ohne Linderung des Leidens. Nicht zuletzt stecke dieser Mangel hinter den viel zu hohen Kosten.
Die Einführung des elektronischen Patientendossiers werde hier Abhilfe schaffen, ist Gysi überzeugt. Datenschützer wehren sich jedoch mit Händen und Füssen gegen diesen Schritt.
Fazit: Im Gesundheitswesen herrscht nur in einem Punkt Einigkeit – es bleibt kompliziert.