Am Dienstag verkündete Gesundheitsminister Alain Berset (50) den Prämienhammer: Um satte 6,6 Prozent werden die Durchschnittskosten für eine obligatorische Krankenversicherung 2023 steigen.
Der höchste Aufschlag seit mehr als einem Jahrzehnt dürfte zur Folge haben, dass in diesem Herbst aussergewöhnlich viele Schweizerinnen und Schweizer eine andere Krankenkasse wählen. «Je stärker der Prämienanstieg, desto mehr Versicherte wechseln ihre Kasse», sagt Felix Schneuwly, Krankenkassen-Experte beim Vergleichsdienst Comparis.
Werden mehr Menschen Krankenkassen wechseln?
Aufgrund von Erfahrungswerten schätzt Schneuwly, dass in den kommenden Monaten mehr als zehn Prozent der Bevölkerung die Krankenkasse wechseln werden. In Jahren mit unspektakulärer Prämienentwicklung seien es etwa sechs Prozent.
Besonders wechselfreudig sind in der Regel «gute Risiken» – im Versicherungsjargon sind das Versicherte, die jung und gesund sind, nur selten zum Arzt oder ins Spital müssen – und deshalb kaum Kosten verursachen.
Wer das Glück hat, zu dieser Gruppe zu gehören, orientiert sich bei der Wahl der obligatorischen Krankenversicherung oft am Preis. Zum Handkuss kommt dann die Kasse mit der günstigsten Prämie.
«Gute Risiken»
In den vergangenen Jahren jagten nicht wenige Billigkassen nach diesen «guten Risiken». Paradebeispiel dafür war Assura. Die Krankenversicherung mit Sitz in Pully VD gehört zu den jüngeren Krankenkassen der Schweiz, zur Jahrtausendwende zählte sie rund 253'000 Versicherte. Damit lag Assura damals weit hinter den Branchenriesen Helsana (1'129'000 Versicherte), CSS (1'090'000), Visana (558'000), Concordia (549'000) und Swica (473'000 Kunden) zurück.
Mithilfe besonders günstiger Prämien gelang es Assura innert weniger Jahre, «günstige Risiken» en masse anzuziehen. 2019 zählte sie deshalb 1'016'000 Versicherte: Sie hatte die Traditionsmarken eingeholt oder gar abgehängt.
Überdurchschnittliche Erhöhungen
Jüngst aber geriet der Wachstumsmotor der Assura arg ins Stottern. In den vergangenen zwei Jahren verlor die Kasse fast 80'000 Kundinnen – in den nächsten Monaten dürften es noch mehr werden. Schneuwly: «Assura muss die Prämien für 2023 überdurchschnittlich stark erhöhen. Es ist deshalb davon auszugehen, dass die Kasse viele Versicherte verlieren wird.»
Assura gibt sich derweil gelassen und hofft, dass ihr die Kunden treu bleiben. Zugleich wehrt sich das Unternehmen gegen den Begriff «Billigkasse». «Wir berechnen unsere Prämien stets kostendeckend, nicht mehr und nicht weniger», sagt eine Sprecherin.
Branchenriesen lösen Billigtöchter auf
Tatsache ist, dass auch andere Kassen, die sich vorwiegend über den Preis definieren, stark unter Druck stehen. Viele Branchenriesen haben sich deshalb in den vergangenen Jahren entschieden, ihre Billigtöchter aufzulösen und in die Kernmarke zu integrieren. Helsana zum Beispiel hat sich 2021 die Billigtochter Progrès einverleibt. CSS wiederum überführte Anfang 2022 Sanagate in die Tochtergesellschaft Arcosana. Per 2023 geht Arcosana in der CSS auf.
Doch wieso fällt es Assura und anderen Billigkassen vermehrt schwer, mit tiefen Prämien «gute Risiken» anzuziehen?
Risikoausgleich bremst Billigkassen
Es liegt am sogenannten Risikoausgleich, einer Vorschrift, die den finanziellen Ausgleich zwischen Versicherern mit unterschiedlicher Kundenstruktur schafft. Kassen mit besonders vielen «guten Risiken» müssen Geld an den Risikoausgleichstopf überweisen. Kassen mit besonders vielen «schlechten Risiken», also mit kranken, vorwiegend älteren Versicherten erhalten Geld aus diesem Topf.
Der Risikoausgleich wurde in den vergangenen Jahren stark ausgebaut und verfeinert. Seit 2020 werden zum Beispiel spezifische und meist chronische Krankheitsbilder mitberücksichtigt, beispielsweise Diabetes, Asthma oder Multiple Sklerose.
Billigkassen am Ende
«Das langjährige Geschäftsmodell der Billigkassen ist dadurch am Ende», sagt Schneuwly. Diese müssten sich nun ernsthaft Gedanken machen, wie sie ihren kranken Kundinnen und Kunden preiswerte und gute Behandlungen verschaffen. «Wer das hinkriegt, kann langfristig günstigere Prämien anbieten als die Konkurrenz. Und das geht nur in Zusammenarbeit mit Ärzten und Spitälern.»
Das Ende der Billigkassen ist also politisch gewollt und ist aus gesundheitlicher und sozialer Gesamtperspektive durchaus sinnvoll.
Für Versicherte jedoch, die im Grunde gesund sind und Jahr für Jahr nach der günstigsten Prämie suchen, ist dieser Paradigmenwechsel keine gute Nachricht. Der Grund: Weil sich durch den verfeinerten Risikoausgleich die Kosten pro Versichertem angleichen, werden auch die Prämienunterschiede geringer.
Wird Wettbewerb überflüssig?
Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) bestätigt diese Entwicklung und spricht von einem «Rückgang der Prämienunterschiede». Dass dadurch der Wettbewerb unter den Kassen überflüssig werden könnte, dementiert die Behörde aber: «Auch wenn sich die Prämienunterschiede verringert haben, existieren sie nach wie vor und bleiben daher ein Wettbewerbselement», sagt ein Sprecher. So betrage zum Beispiel in der Stadt Bern die Differenz zwischen dem günstigsten und teuersten Angebot bei einer erwachsenen Person im Standardmodell mehr als 100Franken im Monat.
Darüber hinaus könnten sich die Kassen auch anderweitig voneinander abheben, zum Beispiel durch die Organisation ihres Geschäftsbetriebs, in der Werbung, bei Personalfragen und bei der Organisation administrativer Verfahrensabläufe. «Wer zum Beispiel digitale Apps bevorzugt, wird eine andere Versicherung wählen als eine Person, die den telefonischen Service besonders schätzt», so der BAG-Sprecher, der auch darauf hinweist, dass sich der Bundesrat immer gegen eine Einheitskasse gestellt habe.
Auch das Volk habe sich stets – zuletzt im Jahr 2014 – gegen die Einführung einer Einheitskasse auf Bundesebene ausgesprochen.